© Locarno Film Festival ("Essential Truth of the Lake" von Lav Diaz)

Liebes-Arrangements: Locarno 2023 - Ein Zwischenbericht

Erste Eindrücke vom 76. Locarno Film Festival (2.-12.8.2023)

Veröffentlicht am
11. August 2023
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Das 76. Locarno Film Festival überrascht in den ersten Tagen mit eigenwillig starken Filmen. Einer davon ist „Do Not Expect Too Much of the End of the World“ von Radu Jude, ein anderer „Animal“ von Sofia Exarchou, der dritte Lav Diaz‘ episch mäandernder „Essential Truth of the Lake“. Zu wünschen übrig lässt hingegen das bisherige Programm auf der Piazza Grande.


Ziemlich exakt 25 Minuten, bevor das 76. Film Festival Locarno am 2. August um 21.30 Uhr eröffnete, zog ein Gewitter über das Städtchen am Lago Maggiore. So etwas hätte in den ersten fünf Jahrzehnten des wegen seiner Freiluftvorführungen auf der Piazza Grande beliebten Festivals garantiert für Chaos gesorgt! Doch seit man vor einigen Jahren die Mehrzweckhalle Fevi mit ihren 2800 Plätzen als Abspielort dazugewonnen hat, geht man in Loacrno mit Wetterunbill gelassener um: Man weicht zur Not in die Halle aus und lässt für diejenigen, die (ohne Schirm) gern im Regen sitzen, parallel den Film auch auf der Piazza laufen. Die den Vorstellungen vorangestellten Präsentationen und Preisverleihungen überträgt man per Stream von da nach dort.

Und weil das Film Festival Locarno inzwischen hybrid unterwegs ist, kann man diese auf YouTube auch weitab von Locarno live mitverfolgen – oder später als Aufzeichnung anschauen. Auf dem YouTube-Kanal des Festivals finden sich auch die Tagestipps von Festivaldirektor Giona A. Nazzaro, Interviews mit Filmschaffenden sowie Aufzeichnungen von Fragerunde und Panels. Eigentlich muss man, um beim Festival von Locarno dabei zu sein, bloß die Filme noch vor Ort anschauen.


Eine Frau in der Tretmühle

Was auf den Leinwänden in Locarno in den ersten Festivaltagen geboten wurde, ist – zumindest im internationalen Wettbewerb –oft feinste Cineasten-Kost. Etwa „Do Not Expect Too Much of the End of the World“ von Radu Jude. Der Film erzählt von einer Frau namens Angela. Die ist Mitte Dreißig und arbeitet bei einer in Bukarest ansässigen Filmproduktion als Mädchen für alles. Der Film folgt ihr vom Aufstehen früh am Morgen bis zu ihrer Rückkehr nach Mitternacht. Die Hälfte der Zeit fährt Angela in ihrem Van kreuz und quer durch Bukarest. Sie transportiert Filmutensilien und führt mit Laien Casting-Interviews durch. Einmal hat sie Sex mit einem Mann, der vielleicht ein Lover, vielleicht ein Kunde ist. Am späteren Nachmittag holt sie die von Nina Hoss gespielte Produzentin eines Auftragsfilms vom Flughafen ab, begleitet sie zu einer Sitzung und führt sie später ins Hotel. Zwischendurch serviert sie Kaffee. Oft sitzt sie irgendwo und wartet. Manchmal dreht sie, in die Rolle ihres Alter Egos Bobby schlüpfend, ein kurzes Filmchen, das sie auf einer TikTok ähnlichen Social Media-App postet.

"Do not expect too much from the End of the World" (Locarno 2023)
"Do not expect too much from the End of the World" (Locarno 2023)

Radu Jude erzählt Angelas Geschichte in drei parallelen, sich bildlich voneinander absetzenden Strängen. Angelas Teil kommt schwarz-weiß daher, die Bobby-Filmchen sind grell farbig und im Hochformat. Der dritte Strang erzählt analog zu Angelas Story die Geschichte einer ebenfalls bis zum Umfallen arbeitenden Taxifahrerin aus früheren Jahren. Judes Film ist gleichermaßen ästhetisch radikal wie politisch bissig. Bei dem im Film entstehenden Auftragsfilm handelt es sich ironischerwiese um das Educational Movie einer internationalen Versicherungsfirma, das darauf hinweist, die bei der Arbeit vorgegebenen Sicherheitsvorschriften einzuhalten.


Die Profi-Bespaßer

Eine thematisch ähnliche Geschichte erzählt Sofia Exarchou in „Animal“. Kalia ist Mitte Dreißig und arbeitet in einem Ferienressort auf einer griechischen Insel als Animateurin. Mit dem Betreiber unterhält sie eine freundschaftliche und gelegentlich auch intime Beziehung. Sie hilft mit, das Ressort für die Saison vorzubereiten. Als die anderen Animateure und Animateurinnen eintreffen, verteilt sie Arbeitskleidung und Kostüme und bringt ihnen die Choreographien bei. Wenn die ersten Gäste kommen, geht es richtig los: Man sorgt tagsüber und abends für Unterhaltung und gute Stimmung, singt, tanzt und flirtet mit den Gästen. Danach trollt man sich in der Gruppe und hängt miteinander ab.

Die Animateure sind außerhalb der Hotelanlage untergebracht. Ihre Arbeit ist hart und verlangt Performance-Skills, körperliche Fitness, Abstinenz oder Trinksicherheit. Eine abends bringt ein Fehltritt Kalia zu Fall; die Wunde am Knie reißt immer wieder auf. Sie beißt die Zähne zusammen, trinkt gegen den Schmerz an, macht weiter, bis sie sich eines Abends nach der Arbeit in einem Club im Städtchen verliert. „Animal“ ist schnell, laut, heftig – und zugleich zärtlich nahe an seiner sich bis zum Zusammenbruch verausgabenden Protagonistin.

Der dritte Film des internationalen Wettbewerbs, der bislang zu sehen war, ist der mit 215 Minuten längste Locarno-Beitrag: „Essential Truth of the Lake“ von Lav Diaz. Der Film dreht sich um Leutnant Papauran, der den bereits abgeschlossenen Fall der vor 15 Jahren unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommenen Performance-Künstlerin Esmeralda nochmals aufrollen möchte. Seine Vorgesetzte gibt Papaurans Ansinnen statt unter der Auflage, dass er unter ihrem Schutz arbeite. Papauran nimmt alte Spuren auf, besucht bereits befragte Zeugen noch einmal, schaut sich den unfertigen Dokumentarfilm an, den eine mit Esmeralda befreundete Regisseurin gedreht hat. Irgendwann findet er das Adler-Kostüm, in dem Esmeralda in den Monaten vor ihrem Tod auftrat, um sich für den Schutz der Raubvögel zu engagieren. Er zieht es an und geistert nun selbst als Adler-Mensch durch den Film. Seine Vorgesetzte entzieht ihm den Fall, doch Papauran kommt nicht mehr von Esmeralda und ihrem Geist los, den Spuren, die sie hinterließ und die nun am Verblassen sind.

„Essential Truth of the Lake“ ist somnambul-traumhaft wie viele Filme von Lav Diaz. Der zunehmende Wahn, mit dem der Protagonist sein Ziel verfolgt, schlägt in Bann und lässt ihn inmitten seiner ascheverhangenen Welt, in der Gräueltaten an der Tagesordnung sind und die Angst umgeht, überaus menschlich erscheinen.


Der Sex und die Macht

Angela, Kalia, aber auch Esmeralda, die sich, um ihre Ziele zu erreichen, auch mit Politikern einließ, sind Frauenfiguren, für die Sex keine Frage der Liebe, sondern ein von Lebens- und Arbeitsumständen bestimmter Deal ist.

Dieses Thema der sich über sexuelle Begegnungen definierenden Machtverhältnisse taucht auch in anderen Wettbewerbsfilmen auf, etwa in dem Kolonialisten-Drama „Sweet Dreams“ von Ena Sendijarević oder in dem musicalartigen Werk „Manga d’Terra“ von Basil Da Cunha.

"Manga d'terra" von (Locarno 2023)
"Manga d'terra" von Basil Da Cunha (Locarno 2023)

Sweet Dreams“ spielt zur Kolonialzeit in Indonesien, wo der Niederländer Ja eine Zuckerrohr-Plantage betreibt und eines Tages unverhofft stirbt. Wie sich herausstellt, hat der Patriarch seine Konkubine Siti und den mit ihr gezeugten Sohn Karel als Erben bestimmt, und zwar zu Ungunsten seiner Gattin und seines ehelichen Sohns, der nach dem Tod des Vaters in Erwartung eines reichen Erbes mit seiner schwangeren Frau aus den Niederlanden anreist. Faszinierend an „Sweet Dreams“ ist vor allem die Rolle der verwitweten Gattin, die Jans Verhältnis mit Siti offensichtlich über Jahren hinnahm und auch duldete, dass Karel in ihrer Familie aufwuchs, ohne dass ihr eigener Sohn davon wusste.

Ganz anders wird das Thema in „Manga d’Terra“ verhandelt, wo die 20-jährige Rosinha nach dem Tod ihres Mannes von den Kap Verden nach Portugal zieht, um ihren zwei Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie hat ihre Kinder bei der Mutter zurückgelassen, arbeitet als Hilfskraft bei einer Portugiesin, die ein Bistro betreibt, und möchte Sängerin werden. Das Leben im Ghetto aber ist rau, und die betörend schöne Rosinha vielleicht ein bisschen zu gutmütig und auch eine Spur zu naiv. Die Männer schauen ihr nach, machen sie an, wollen ihr an die Wäsche. Die Frauen, auch ihre Mutter am Telefon, warnen sie davor, auf falsche Wege zu geraten.


Die Stimmung im Quartier brodelt

Aber die Stimmung im Quartier brodelt dennoch; wo die Männer einer neuen Frau hinterhergaffen, beginnt die Eifersucht der Frauen zu wachsen. Obwohl es Rosinha immer wieder gelingt, sich zur Wehr zu setzen, lässt der Film ihr Schicksal am Ende offen.

Basil da Cunha schreibt in einer Anmerkung zu „Manga d’Terra“, er habe seinen Film als Hommage an die Frauen des Reboleira-Viertels von Lissabon gedreht und lasse darin den kosmischen Sound von Kap Verde aufleben. Letzteres ist ihm mit der Sängerin Eliana Rosa, die in der Rolle Rosinhas einige wunderschön wehmütige Songs singt, glänzend gelungen.

Weniger überzeugen vermochte in den ersten Tagen des 76. Locarno Film Festivals allerdings das Abendprogramm auf der Piazza, das mit der Vorführung von Justine Triets „Anatomie d’une chute“ bisher nur einen einzigen Höhepunkt verzeichnete. Doch noch ist Locarno nicht vorbei. Ken Loachs „The Old Oak“ und Luc Jacquets nach „Die Reise der Pinguine“ zweiter Pinguine-Film mit Titel „Antarctica Calling“ lassen auf der Piazza programmiert auf Verbesserung hoffen.

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