© 2023 NEOPA/Fictive ("Evil does not exist")

Mensch und Natur

Notizen vom 80. Filmfestival in Venedig: Neue Filme von William Friedkin, Pema Tseden & Ryusuke Hamaguchi

Veröffentlicht am
18. September 2023
Diskussion

Das 80. Filmfestival von Venedig zeigte das letzte vollendete Werk eines Pioniers des tibetischen Kinos: „Snow Leopard“ von Pema Tseden. Der Film handelt von Spannungen zwischen Mensch und Natur im tibetischen Hochland, ausgelöst durch eine Schneeleopardin, die die Schafherde eines Hirten angegriffen hat. Der japanische Regisseur Ryusuke Hamaguchi arbeitet sich in „Evil Does Not Exist“ an einer ähnlichen Thematik ab.


Zu den Werken, die das 80. Filmfestival in Venedig außer Konkurrenz zeigt, gehört die letzte Arbeit des jüngst verstorbenen Altmeisters William Friedkin: Mit „The Caine Mutiny Court-Martial“ hinterlässt Friedkin eine im besten Sinne schlichte, hochkonzentrierte Theaterverfilmung des gleichnamigen Stücks von Herman Wouk, das einst schon Edward Dmytryk mit Humphrey Bogart adaptierte („Die Caine war ihr Schicksal“); ein sich ganz dem Text und den exzellenten Schauspieler:innen anvertrauendes klassisches Court-Room-Drama.

Die 80. „Mostra“ präsentierte aber auch die Abschiedsvorstellung eines anderen bemerkenswerten Filmemachers: Pema Tseden, der am 8. Mai 2023 im Alter von nur 53 Jahren verstarb, war eine Schlüsselfigur des tibetanischen Kinos; sein letzter vollendeter Film „Xue Bao“ („Snow Leopard“) lief in Venedig ebenfalls außer Konkurrenz.


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Pema Tseden war der erste tibetische Absolvent der Pekinger Filmakademie und drehte Filme in tibetischer Sprache; sein filmisches Grundthema bestand darin, das Leben in Tibet und die tibetische Kultur realitätsnah, jenseits exotisierender Zuschreibungen und Mystifizierungen einzufangen. Die Handlungen seiner Filme drehen sich meist um den gesellschaftlichen Wandel, um Spannungen zwischen Tradition und Moderne oder zwischen Mensch und Natur.


Konflikt um Leben oder Tod

Diese Konfliktlinie ist auch das zentrale Thema von „Snow Leopard“. Der Film begleitet ein Fernsehteam zu einem Hof in der Provinz Qinghai im Nordosten des tibetischen Hochlandes auf rund 4000 Metern Höhe. Es soll über eine Schneeleopardin berichten, die ins Schafsgehege einer Hirtenfamilie eingedrungen ist und neun Tiere gerissen hat. Jetzt ist der Leopard in dem Pferch eingesperrt; der Hirte schäumt vor Wut und ist wild entschlossen, das Raubtier zu töten. Sein Vater aber, der in dem Tier eine Art Geist der Bergwelt sieht, warnt davor, dass dieser Racheakt Unglück über die Familie bringt; der Bruder des Hirten, ein Mönch und Fotograf, fühlt wiederum eine besondere Hinneigung zu der seltenen Großkatze und plädiert ebenfalls dafür, das Tier ungeschoren freizulassen.

"Snow Leopard" von Pema Tseden (Beijing Nanji Pict./Khorgas Lingyu Pict.)
"Snow Leopard" von Pema Tseden (© Beijing Nanji Pict./Khorgas Lingyu Pict.)

Als dann neben dem neugierigen Filmteam auch noch Beamte auftauchen, die ebenfalls die Freilassung der unter Naturschutz stehenden Leopardin fordern, und außerdem auch noch die Polizei dazukommt, ist das Palaver perfekt; zwischendurch werden die Diskussionen sogar handgreiflich.

In „Snow Leopard“ prallen viele Haltungen aufeinander und müssen zu einem Kompromiss finden: materielle Interessen, ein religiös-spirituelles Naturverständnis, die Perspektive von Stadtmenschen auf Schönheiten und Gefahren der Natur, staatliche Regeln und Verordnungen. Wobei Pema Tseden der Perspektive des fotografierenden Mönchs eine Vorzugsstellung einräumt, indem er in die turbulente Handlung ruhige, traumartige Passagen in Schwarz-weiß einflicht, die zwischen Erinnerung und Fantasie von einer besonderen Verbindung mit dem Schneeleoparden erzählen.

Die Bildsprache prunkt zwar mit gewaltigen Panoramabildern der kargen Gebirgslandschaft (gefilmt vom belgischen Kameramann Matthias Delvaux); doch passend dazu, dass eine Fernsehcrew als dramaturgischer Anker dient, besitzt sie einen eher reportagehaften, nahe bei den Figuren bleibenden Gestus.


Kritiker-Favoriten: „Evil Does Not Exist“

Ein anderer herausragender asiatischer Beitrag, der sich mit dem Verhältnis von Mensch und Natur befasst, könnte sogar Chancen auf einen „Löwen“ haben: „Evil Does Not Exist“ von Ryusuke Hamaguchi gehört neben „Poor Things“ von Yorgos Lanthimos, „Green Border“ von Agnieszka Holland und Bradley Coopers „Maestro“ zu den Kritiker-Lieblingen des Festivals. Der Film spielt in einer winterlich-ländlichen Region nahe Tokio. Dort lebt ein Mann namens Takumi (Hitoshi Omika) zusammen mit seiner kleinen Tochter in einer Dorfgemeinschaft, in der man aufeinander, aber auch auf die umgebende Natur achtgibt.

"Evil does not exist" (2023 Neopa/Fictive)
"Evil does not exist" (© 2023 Neopa/Fictive)

Hamaguchi nimmt sich viel Zeit, um ein Gefühl für den Alltag und den Lebensrhythmus an diesem Ort zu vermitteln. Man sieht Takumi dabei zu, wie er mit geübten Handgriffen einen Baumstamm mit Säge und Axt zu handlichen Scheiten verarbeitet oder wie er mit einem Bekannten Wasserkanister am Fluss auffüllt. Die Kamera lässt sich Zeit, um in die Baumwipfel oder zum wilden Wasabi am Waldboden zu gleiten. Dass Takumi sich etwas verspätet, als er seine Tochter von der Schule abholt, und die Kleine schon zu Fuß nach Hause aufgebrochen ist, beunruhigt ihn wenig; das Mädchen kennt die Wälder, die das Dorf umgeben, so gut wie er selbst.

Doch der Friede der kleinen Gemeinschaft könnte in Gefahr geraten. Eine Firma aus Tokio will auf dem Gebiet der Gemeinde einen „Glamping“-Platz eröffnen (eine Wortsynthese aus „Glamour“ und „Camping“, was Camping mit besonderem Komfort meint). Den lokalen Geschäften würde das neue Kunden bescheren. Doch als bei einer Sitzung das Konzept vorgestellt wird, artikulieren die Einwohner Kritik, weil die Umweltverträglichkeit des Projekts, insbesondere die Entsorgung des Abwassers, offensichtliche Mängel aufweist. Doch wie soll sich die Gemeinde gegen die Firma durchsetzen?

Eine Konfrontation mit dem „Corporate Evil“ scheint sich anzubahnen. Doch das Drehbuch von Hamaguchi schlägt Haken, die weit weg von den bekannten „Erin Brockovich“-Ökokrimi-Mustern führen. Ein ebenso poetischer wie nachdenklicher und überraschender Film über den nachhaltigen Umgang mit der Natur, der seinerseits nachhaltigen Eindruck hinterlässt.

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