© Neue Visionen ("The Quiet Girl")

Mädchen & Kindheit. Eine neue Perspektive

Jüngere Kinderfilme rücken vermehrt die Perspektiven von Mädchen ins Zentrum. Das verändert auf Dauer auch das Bild der Gesellschaft von sich selbst

Veröffentlicht am
22. November 2023
Diskussion

Im Kino waren es bislang meist Jungs, die in Filmen über die Kindheit im Fokus standen. In jüngster Zeit aber mehren sich Werke, die sich mit dem Erleben von Mädchen vor der Pubertät beschäftigen. Und zwar als eigenständige Charaktere, nicht als billige Projektionen kindlicher Unschuld. Das ist nicht nur ein Akt von Gendergerechtigkeit, der männliche Sehweisen um ein Pendant ergänzt, sondern verändert nachhaltig den Blick der Gesellschaft auf sich selbst.


Die Maske des Erwachsenen heißt „Erfahrung“. Sie ist ausdruckslos, undurchdringlich, die immer gleiche. (Walter Benjamin)


Die siebenjährige Cáit (Catherine Clinch) und ihr Ferienvater Seán (Andrew Bennett) sitzen am Strand und blicken auf die nächtliche See. Ein schmerzendes Geheimnis hat soeben seinen Weg an die Oberfläche gefunden. Das von Natur aus stille Mädchen ringt mit den Worten. Das ist eine Szene, die nach einer großen Aussprache verlangt, in der – dramaturgisch betrachtet – das Innerste nach außen gestülpt werden müsste. Seán aber beschwichtigt: Cáit müsse jetzt nichts sagen. Dann folgt einer der schönsten Sätze des aktuellen Kinojahres: „Viele Leute verpassen die Chance, nichts zu sagen, und haben viel dabei verloren.“ Die Schweigsamkeit, oft als Makel betrachtet oder gar gefürchtet, weil man nicht genau weiß, auf welche Seite sich der Schweigsame denn nun geschlagen hat, wird in „The Quiet Girl“ als große, empfindsame Gabe gedeutet.

Man kann diesen Satz durchaus als ästhetisches Programm des gesamten Films lesen. „The Quiet Girl“ ist über seine Figur hinaus ein ungemein schweigsamer Film. Während insbesondere im Mainstreamkino der Dialog zumeist alles dominiert, weil darüber die Handlung vorangetrieben wird, und die Bilder sich dem Gesagten eher unterordnen, lässt Regisseur Colm Bairéad in „The Quiet Girl“ Raum für beredte Bilder, die der Wahrnehmung des empathischen Mädchens entspringen. Der ganze Film wird auf diese Weise zum Erfahrungskörper von Cáit, die Geschichte aus ihrer Perspektive erzählt.

Eine andere Perspektive: "The Quiet Girl" (Neue Visionen)
Eine andere Perspektive: "The Quiet Girl" (© Neue Visionen)

Seine lieblosen Eltern haben das stark vernachlässigte Mädchen den Sommer über zur Verwandtschaft geschickt. Durch die Zuneigung, die Cáit dort zuteilwird, weitet sich der Film. Was vorher eng war, gewinnt nun eine Weite, in der mit feiner Sinnlichkeit kleinste Momente, Berührungen und Gesten registriert werden: das Kämmen der Haare vor dem Fenster, die Badewanne oder der Keks auf dem Küchentisch. Die Bilder passend sich zunehmend der Atmung der Hauptfigur an und heben einzelne Momente aus dem Strom der Ereignisse heraus; lauter Erinnerungsbilder, die durchaus dem entsprechen, wie wir uns für gewöhnlich selbst erinnern.

Es ist schon erstaunlich, wie schwer es uns fällt, die eigene Kindheit in Gänze zu vergegenwärtigen. Der Lebensabschnitt, den wir alle durchlaufen, lässt sich kaum zu einer kohärenten Erzählung zusammenzufügen. Denn immer schon sind unsere Erinnerungen von den Erzählungen anderer überlagert. Anekdoten, die auf unzähligen Familienfesten ausgeschmückt wurden, erzeugen und verzerren den Blick zurück. Die reine, unverstellte Erinnerung an die Kindheit gibt es nicht. Immer ist sie ein Konstrukt der Erwachsenen. Aber nur weil man sie nicht in Worte fassen kann, heißt das nicht, dass sie sich nicht in uns eingeschrieben hat.

Es gibt eine Vorstellung davon, eine sehr klare Erwartungshaltung, wie Kinder sind oder zu sein haben. Das ist möglicherweise auch der Grund, warum einem die Kindheit der eigenen Eltern so fremd erscheint. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass die Großmutter auch einmal ein kleines Mädchen war, und der Großvater ein schmächtiger Junge.


Die Kindheit von Mädchen

„The Quiet Girl“ ist in dieser Hinsicht sehr aufmerksam. Es gibt keine Geschichte im klassischen Sinne. Es bleibt vielmehr bei Eindrücken und atmosphärischen Splittern. Ganz so, wie man sich eher an den seltsamen Geruch aus Äpfeln und Eierlikör im Vorratsschrank der Großmutter erinnert als an einen konkreten Nachmittag. Die Tage eines Sommers schnurren zu einem Gefühl aus See, Kieselsteinen und Sonnenbrand zusammen. Auf ewig werden Großväter den Zucker in ihren Kaffee löffeln, das vergilbte Weiß der Türen abblättern und der alte hässliche Teppich im Flur über die Wange streicheln, wenn man dort vor sich hingeträumt hat. Auf eben eine solche Weise begleitet man Cáit, wie sich ihr Aufenthalt bei den Verwandten in eine intensive Sammlung von Bildern verwandelt – einem Seelenbild gleich.

Begegnung über Zeit und Raum hinweg: "Petite Maman" (Alamode Film)
Begegnung über Zeit und Raum hinweg: "Petite Maman" (© Alamode Film)

Doch es geht in diesem Film nicht nur um Kindheit ganz allgemein. „The Quiet Girl“ wendet sich vielmehr einem Thema zu, das in der Filmgeschichte sträflich unbehandelt wurde: der Kindheit von Mädchen, noch vor der Pubertät. Im klassischen Coming-of-Age-Film setzen sich viele Filmemacher:innen mit dem dezidiert weiblichen Erleben des jugendlichen Hormonsturms auseinander; etwa in „Mustang“ oder „Booksmart“. Die enger gefasste Kindheit wird auf der Leinwand beinahe ausschließlich von Jungs bevölkert. Sie sind es, die in Filmen wie „Die Goonies“ oder „Stand by Me“ Abenteuer erleben, gegen das Schulsystem aufbegehren („Sie küssten und sie schlugen ihn) oder einen ganzen Film lang zum Erwachsenen werden („Boyhood“).

Cáit ist damit eine ziemlich einzigartige Erscheinung im Kino. Umso erstaunlicher ist, dass sich gegenwärtig eine ganze Reihe von Filmen mit der Kindheit von Mädchen beschäftigen, etwa „Petite Maman“ von Céline Sciamma, „Aftersun von Charlotte Wells, Léa Mysius’ „The Five Devils“ und aktuell „Tótem“ von Lila Avilés. So unterschiedlich diese Werke auch sind, ist ihnen allen ein sparsamer Umgang mit Worten gemein. Auf der Leinwand entwickelt sich eine sensible Bildsprache weiblicher Wahrnehmung, die in der primär männlich dominierten Medienwelt dringend benötigt wird.

Kinder finden ihren Platz in der Welt nicht erst mit der Pubertät. Wie sich anhand der soziologisch gut untersuchten fehlenden Durchlässigkeit des Bildungssystems zeigt, werden die Weichen für die Zukunft sehr früh gestellt. Körper- und Geschlechterbilder gehören ebenso dazu wie unterschiedliche ökonomische Chancen. Solange man die Kindheit verniedlicht, bleibt es ein beschwerlicher Weg der nachträglichen Korrektur.


Sich auf Augenhöhe begeben

Die Hinwendung zur weiblichen Kindheit hat dabei durchaus einen feministischen Spin, der allerdings weder programmatisch noch im streng didaktischen Sinne zu verstehen ist. Eher drängt sich der Begriff der Phänomenologie auf. Die Filmemacherinnen wollen zum Kern der Dinge, zum Phänomen selbst vordringen. In welchen Bildern erleben Mädchen ihre Kindheit? Anders als Jungs? Und mit welchen Bildern können wir über unser eigenes Aufwachsen nachdenken?

Da wäre beispielsweise der eindringliche Petite Maman“. Auf ganz eigene Art erzählt dieses Zeitreise-Märchen von der achtjährigen Nelly (Jósephine Sanz), die im Wald ein gleichaltriges Mädchen trifft, das auf wundersame Weise ihre eigene Mutter ist. Ihre Begegnung über Raum und Zeit hinweg wird zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Depression der Mutter. Statt einer verniedlichenden Vorstellung von Kindheit stellt sich hier ein melancholischer Ernst ein. Die Regisseurin Céline Sciamma kehrt dabei die Verantwortung um, indem die Tochter ihrer „petite maman“ einen zukünftigen Trost spendet.

In gänzlich unaufgeregten, aber immer auch mysteriösen Bildern zaubert „Petite Maman“ eine Entzauberung auf die Leinwand, fern alberner Kinderfilme à la „Bibi und Tina“ oder „Die Schule der magischen Tiere“. Interessant ist, dass Léa Mysius in „The Five Devils“ ebenfalls ein Mädchen durch die Zeit reisen lässt, um Momente im Leben der Mutter nachzuvollziehen und letztlich sogar in das Geschehen einzugreifen: Gelebte Empathie und generationsübergreifendes Empowerment flirten hier mit dem Genrefilm.

Empathie meets Genrefilm: "The Five Devils" (Mubi/F Comme Film)
Empathie meets Genrefilm: "The Five Devils" (Mubi/F Comme Film)

Auffällig ist auch, wie deutlich sich dabei das Motiv des Abschieds durch diese Filme zieht, so als würde Weiblichkeit mit einem (historischen) Schmerz verbunden sein. In „Petite Maman“ ist es der Tod der Großmutter, der als Auslöser dient. Der Tod als eine andere Art Neuanfang, als Kehrseite der Geburt. In „Tótem“ wird die letzte Geburtstagsfeier für den schwerkranken Tona (Mateo Garcia Elizondo) im Schoße seiner mexikanischen Großfamilie ausgerichtet. Man will sich dem Tod nicht beugen und kommt doch nicht daran vorbei. Auf zärtlich-leise Weise schickt die Regisseurin Lila Avilés die 7-jährige Sol (Naíma Sentíes) durch eine melancholische, mitunter aber auch witzige Familienaufstellung. Alle sind in diesem Haus mit sich selbst beschäftigt, weshalb das Mädchen mit seiner Trauer allein fertigwerden muss. Denn es ist Sols Vater, der im Sterben liegt. Ihre Tanten und Onkel verlieren sich in ihrem eigenen Umgang mit dem drohenden Verlust und haben keinen Sinn für die Gefühle des Mädchens.

In den Augen der Erwachsenen hat Sol vor allem ein Kind zu sein. Der Großvater weist sie zurecht: Sie solle einfach keinen Unsinn anstellen. Auf die Idee, sich auf ernsthafte Weise mit dem Kind über den Tod zu unterhalten, kommt niemand. Am Ende aber ist Sol die Einzige, die deutlich ausspricht, dass sie sich vor dem Tod fürchtet. Sie macht sich einen Reim auf alles. Kinder, so kann man „Tótem interpretieren, tragen eine große Stärke in sich. Begegnet man ihnen auf Augenhöhe, sind sie durchaus in der Lage, auch schreckliche Dinge zu verarbeiten.


Mädchen sind Charaktere

In den westlichen Gesellschaften wird Kindheit meist mit Pastelltönen assoziiert, der zufolge sich Mädchen für Pferde und pinke Kleider interessieren. In den hellsichtigen neuen Kindheitsfilmen kommt davon nichts vor. Mädchen sind hier keine Projektionen kindlicher Unschuld. Sie sind Charaktere, die ebenso ernsthaft empfinden dürfen wie die Erwachsenen. Es wäre zu wünschen, dass sich diese Bilder auch in der Gesellschaft durchsetzen.

Nur die siebenjährige Sol sieht klar: "Tótem" (Piffl Medien)
Nur die siebenjährige Sol sieht klar: "Tótem" (© Piffl Medien)


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