© Pandora Film/Anna Camerlingo

Fanal der Intoleranz - Interview mit Marco Bellocchio zu „Die Bologna-Entführung“

Ein Interview mit Marco Bellocchio zu „Die Bologna-Entführung“ über eine im 19. Jahrhundert vom Papst angeordnete Entführung eines Kindes aus einer jüdischen Familie

Veröffentlicht am
22. November 2023
Diskussion

In den letzten Jahren läuft der 84-jährige italienische Regisseur Marco Bellocchio, der einst mit „Die Faust in der Tasche“ (1965) bekannt wurde, zu neuer Hochform auf. Nach der Mafia-Geschichte „Il Traditore - Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“, dem sehr persönlichen Dokumentarfilm „Marx Can Wait“, und der Fernsehserie „Und draußen die Nacht“ über die Entführung von Aldo Moro feierte in Cannes im Frühling 2023 sein neuer Film „Die Bologna-Entführung - Geraubt im Namen des Papstes“ Premiere. Auffallend in Bellocchios Lebenswerk sind wiederkehrende Reflexionen zum Verhältnis zwischen Religion und Macht sowie der Bedeutung von Träumen und Psychoanalyse. Auch in seinem jüngsten Film „Die Bologna-Entführung“ spielen diese Schwerpunkte eine Rolle.


Die Bologna-Entführung“ rollt das Schicksal eines Jungen auf, der im 19. Jahrhundert auf Geheiß von Papst Pius IX. aus seiner jüdischen Familie in Bologna nach Rom entführt wurde, weil das Kind einst christlich getauft worden war. Warum lag Ihnen dieser auf realen Ereignissen beruhende Stoff am Herzen?

Marco Bellocchio: In „Die Bologna-Entführung“ geht es um eine Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche. Der Papst beschließt, eine objektive Gewalttat gegen ein Kind zu begehen, das er im Namen eines religiösen Grundsatzes entführen lässt. Dabei agieren Papst und katholische Kirche mit einer totalen Intoleranz. Sie gehen davon aus: Wer getauft ist, ist katholisch und gehört der katholisch-christlichen Kirche für immer und ewig an. Deshalb nimmt sich der Papst das Recht heraus, ein getauftes Kind aus seiner jüdischen Familie zu nehmen und den Jungen christlich zu erziehen. Eine Geschichte, die die absolutistische Dimension offenbart, die der Religion eigen sein kann. Hier konkret dem Katholizismus, aber auch die jüdische Religion, bei der ich mich nicht genug auskenne, kann solche Züge haben, wenn es zum Beispiel um die Trennung von Männern und Frauen in der Synagoge geht. Die aus solchem Absolutismus erwachsende Intoleranz ist jedenfalls Teil der Geschichte der katholischen Kirche, auch wenn sie heute, und nicht nur wegen Papst Franziskus, viel offener geworden ist.

"Die Bologna-Entfüührung" (© Pandora Film/Anna Camerlingo)
"Die Bologna-Entfüührung" (© Pandora Film/Anna Camerlingo)

Wie wichtig war Ihnen der emotionale Aspekt des Films, das heißt das Leiden der jüdischen Familie unter dieser Entführung?

Bellocchio: Was damals 1858 passiert ist, könnte heute so nicht mehr geschehen. Ich wollte der Emotionalität der Geschichte eine große Bedeutung verleihen. Ich habe den Film nicht aus einer politischen Überzeugung heraus gemacht, oder um gegen die Kirche zu polemisieren, sondern um von einem Drama zu erzählen, von der Tragödie eines Kindes, das aus seiner Familie herausgerissen wird, von seinem Kampf ums Überleben in einer Welt, von der es nichts wusste. Von einem Tag auf den anderen wird dieser jüdische Junge zum Katholizismus erzogen. Um zu überleben – zunächst mit dem Wunsch, seine Herkunft nicht zu verleugnen –, akzeptiert er in gewisser Weise diese ihm neue Religion. Das führt dazu, dass er als erwachsener Mann diese Konversion nicht rückgängig macht und dem Papst treu bleibt. Dennoch steht am Anfang die erzwungene Gewalt, mit der diese Bekehrung beginnt. Sie wird so zu einer Bekehrung, um zu überleben.


      Das könnte Sie auch interessieren:


Über die Rolle der Religion unter Mussolini haben sie in ihrem Film „Vincere“ über den jungen, radikal-sozialistischen Mussolini reflektiert. Warum war Ihnen das so wichtig?

Bellocchio: In Vincerewollte ich erzählen, dass Mussolini zwischen 1900 und 1910 noch ein revolutionärer Sozialist und vor allem antiklerikal war. Priester waren die Feinde. Er sagte einmal auf einer sozialistischen Demonstration: „Mit den Innereien der letzten Priester werden wir den letzten König erwürgen.“ Mussolini versteht jedoch, als er an der Macht ist, dass er mit den Katholiken eine Übereinkunft finden muss. Nachdem Garibaldi bereits 1870 Rom erobert hat und den Einfluss der katholischen Kirche einschränkte, kommt es erst 1929 zu den Verträgen zwischen Mussolini und dem Vatikan, die zur Gründung des winzigen Stadtstaates mitten in Rom führen. Die katholische Kirche wird so zur Staatskirche und die katholische Religion an allen Schulen gelehrt. Alles brauchte die Zustimmung der Kirche, die dann als Gegenleistung Mussolini unterstützte.

Träume spielen in ihren Filmen immer eine sehr organische Rolle. In „Die Bologna-Entführung“ stellt sich der kleine Junge vor, wie bei einem Jesus am Kreuze plötzlich die Nägel herausspringen und Jesus spazieren geht. In „Buongiorno, notte“ entflieht Aldo Moro im Geiste seinem Gefängnis und geht auf die Straße, und in der TV-Serie „Und draußen die Nacht“ ist Aldo Moro plötzlich zu Beginn der Serie freigelassen worden und alle Politiker drehen durch. Was bedeuten Ihnen diese Träume?

Bellocchio: Es stimmt schon, da bestehen gewisse Analogien. Das habe ich nicht unbedingt absichtlich oder bewusst gemacht, sondern eher spontan. Der aufmerksame Filmkritiker und Beobachter erkennt dann gewisse Analogien. Für den Jungen in „Die Bologna-Entführung“ geht es in seinem Traum um die Fantasie, dass er keinen Krieg will, sondern Frieden zwischen seiner Herkunftsfamilie und dem Vatikan. Er befreit Christus in seinem Traum und nimmt der katholischen Kirche somit den Hauptvorwurf gegen Juden weg, der immer lautete, die Juden hätten Gott getötet. Und es gibt dann die Analogie mit der Befreiung von Aldo Moro. Beides sind Projektionen, denn in Wirklichkeit ist ja etwas anderes geschehen. Die Analogie mit dem freien Christus besagt ja auch, dass er sowohl von den Christen wie den Juden frei ist, ebenso frei wie Moro, der durch die Straßen von Rom geht.

Marco Bellocchio (© Pandora Film/Anna Camerlingo)
Marco Bellocchio (© Pandora Film/Anna Camerlingo)

Aber konkreter: Sie scheinen ein großes Interesse an der Psychoanalyse zu haben. Dass der Vater in „Teufel im Leib“ Psychiater ist, ist kein Zufall, oder?

Bellocchio: Psychoanalyse ist wie eine Einführung in die lyrische Welt. In einer Therapie geht es auch darum, sich zu erinnern, mit dem Therapeuten zu diskutieren, der einen eigentlich interpretieren sollte. Der Traum und die Dimension des Unbewussten sind sehr mit dem Diskurs der Schönheit und der Kunst verbunden. Was immer wir in der Kunst tun, wir sind uns dessen bewusst, dass wir über einen Diskurs sprechen, der über die Rationalität hinausgeht und daher ganz natürlich auf Traumfantasien zurückgreift. In der analytischen Therapie gibt es tausend Wege, um eine Psychoanalyse zu machen, auch tausend Schulen, die besagen, das Kernstück sei die Traumdeutung. Wenn man dann einem Therapeuten gegenübersitzt, misst man den eigenen Träumen eine größere Aufmerksamkeit bei. Man erinnert sich bewusster an seine Träume. Ich persönlich gehe nicht mehr zur Psychoanalyse, aber wir alle verfügen über Erfahrungen, die in uns wohnen und die sich analysieren lassen. Ich nahm auch an Seminaren zur kollektiven Analyse teil, wo der Diskurs über Träume und Traumdeutung zentral war.

Manchmal widmen Sie sich in Ihrer Filmografie einem Thema gleich zweimal, auch wenn dazwischen viele Jahre vergehen. In „Marx Can Wait“ haben Sie 2021 einen Dokumentarfilm über ihren Zwillingsbruder gedreht, der sich das Leben nahm. 1982 haben Sie die Geschichte des Bruders schon in „Die Augen, der Mund“ als Spielfilm erzählt. Was waren die unterschiedlichen Herangehensweisen?

Bellocchio:Die Augen, der Mund“ war eine Fiktion über eine Familientragödie, den Selbstmord meines Bruders. Es ist durch und durch ein fiktionaler Spielfilm. In „Marx Can Wait“ geht es um eine andere Filmsprache. Es ist ein Film, der sich auf sehr persönliche Weise mit der gleichen Tragödie befasst, aber dabei auch auf private Dokumente und Archivmaterial zurückgreift. Es ist ein Film, in dem die Familienmitglieder als Zeitzeugen auftreten. Wir sprechen über unsere Familientragödie. In „Die Augen, der Mund“ wird das in einer fiktionalen Form erzählt, mit Schauspielern wie Lou Castel, der die Figur mit einer inneren Würde spielt, mit Michel Piccoli und Emmanuelle Riva. Ich war damals vielleicht auch befangener, weil meine Mutter noch lebte. „Marx Can Wait“ ist ein viel kleinerer Film mit den wirklichen Protagonisten dieser Familie. Ich stehe da nicht hinter der Kamera, sondern spreche auch vor der Kamera über diese Tragödie, über meinen Bruder.

Aus "Marx Can Wait" (aktuell streambar bei MUBI): Die Brüder Bellocchio (© Mubi)
Aus "Marx Can Wait": Die Brüder Bellocchio (© Mubi)

Man hat Sie in den letzten Jahren vor allem nach „Il Traditore“ und nach „Und draußen die Nacht“ als den filmischen Chronisten Italiens bezeichnet. Sind Sie mit dieser Einschätzung einverstanden?

Bellocchio: Der Chronist ist ein Historiker, der sich an die Fakten halten muss. Ich habe in beiden Filmen reale Fakten und Geschichten aufgegriffen, um mir dann beim Erzählen Freiheiten zu nehmen, die ich viel interessanter finde.

Hatte das deutsche Kino einen Einfluss auf ihre Arbeit? In „Vincere“ sieht man deutlich expressionistische Einflüsse des deutschen Kinos der 1920er-Jahre …

Bellocchio: Ja, das deutsche Kino hat mich beeinflusst. Ich entdeckte den deutschen Expressionismus an der Filmhochschule. Ich war eine Zeitlang auch Maler und so interessierte mich der deutsche Expressionismus auch in der Malerei und Skulptur. Es ist diese Kombination aus Realismus und Expressionismus, die allen großen Meisterwerken des deutschen Expressionismus eigen ist, vor allem natürlich „Das Cabinet des Doktor Caligari“, aber auch Fritz Langs „Metropolis“, und natürlich die Filme von Friedrich Wilhelm Murnau. All diese deutschen Filme waren für mich außergewöhnliche Entdeckungen.

Kommentar verfassen

Kommentieren