Und draußen die Nacht

Drama | Italien/Frankreich 2022 | 333 (6 Folgen) Minuten

Regie: Marco Bellocchio

Politthriller-Serie über die Entführung und Ermordung des italienischen Politikers Aldo Moro (1916-1978) durch die Terrororganisation „Brigate Rosse“, realisiert mit deutlich fiktionalisierenden Tendenzen. In sechs, jeweils an der Perspektive einer einzelnen Figur orientierten Episoden entsteht ein glaubwürdiges Psychogramm der Handelnden, das durch präzise, skizzenhaft-knappe Striche überdies ein Panorama der gesamtgesellschaftlichen Situation entwirft. Die Darsteller agieren zumeist in kammerspielartigen Szenen vor düsteren Interieurs; die sparsamen dramatischen Höhepunkte entladen sich schnell und eruptiv. Eine ruhig erzählte Historienserie um ein Trauma der italienischen Nachkriegsgeschichte, das zu Vergleichen mit dem „Deutschen Herbst“ einlädt. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
ESTERNO NOTTE
Produktionsland
Italien/Frankreich
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
The Apartment/Kavac Film/Arte France
Regie
Marco Bellocchio
Buch
Marco Bellocchio · Davide Serino · Stefano Bises · Ludovica Rampoldi
Kamera
Francesco Di Giacomo
Musik
Fabio Massimo Capogrosso
Schnitt
Francesca Calvelli · Claudio Misantoni
Darsteller
Fabrizio Gifuni (Aldo Moro) · Margherita Buy (Eleonora Chiavarelli) · Toni Servillo (Papst Paul VI.) · Fausto Russo Alesi (Francesco Cossiga) · Daniela Marra (Adriana Faranda)
Länge
333 (6 Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Historienfilm | Politthriller | Serie

Politthriller-Serie über die Entführung und Ermordung des italienischen Politikers Aldo Moro (1916-1978) durch die Terrororganisation "Brigate Rosse".

Diskussion

Draußen kreisen suchend die Hubschrauber über Rom, bei Tag und bei Nacht – solche von Polizei und Militär oder solche der Presse, es wird nicht ganz klar. Sicher ist: Es schwebt unter ihnen jedenfalls kein segnender Christus mehr über der Ewigen Stadt, ihrem Volk und seinen heiligen oder unheiligen Machenschaften, wie ehedem im Rom-Klassiker „La dolce vita“. In Marco Bellocchios sechsteiliger Serie „Und draußen die Nacht“ geht es um das große Trauma der italienischen Nachkriegsgeschichte, der Entführung und Ermordung des Politikers Aldo Moro (1916-1978), mit der sich Bellocchio bereits in seinem Film „Buongiorno, notte“ (2003) auseinandergesetzt hatte.

Bleierne Zeit

Die Szenen mit den Hubschraubern gehören zusammen mit dem aus verschiedenen Blickwinkeln mehrfach vorgeführten mörderischen Überfall auf Moros Wagenkolonne zu den wenigen, die entschiedenes und folgenreiches Handeln zumindest simulieren. In Italien gingen jene Jahre Mitte/Ende der 1970er mit der Agonie einer über dreißig Jahre quasi allein regierenden Volkspartei, der Democrazia Cristiana (DC), und ihrem überalterten und unglaubwürdig gewordenen Personal (lauter Männer, natürlich) sehr treffend als „anni di piombo“, als bleierne Zeit, in die Geschichtsschreibung ein. Nachdem die Gerontokratie der Andreotti, Moro, Cossiga und Leone auch nach dem historischen Kompromiss mit der parlamentarischen Linken, vertreten durch Kommunistenführer Enrico Berlinguer (Lorenzo Gioielli), keine spürbaren Veränderungen hin zu einer modernen partizipativen Gesellschaft zustande brachte, begann sich vor allem die studentische Jugend zu radikalisieren und offen mit der linksterroristischen Gruppierung Rote Brigaden zu sympathisieren. Diese entscheiden sich neben kurzen Verlautbarungen durch Kommuniqués für die drastische Aktion als Mittel ihrer Wahl und nehmen prominentes Führungspersonal aus Politik und Wirtschaft wortwörtlich ins Visier.

Aldo Moro (Fabrizio Gifuni) ist zu diesem Zeitpunkt ein bereits stark gealterter, müder Mann über 60, zwar noch Vorsitzender der Christdemokraten, jedoch ohne exekutives Amt. Er möchte sich offensichtlich stärker auf eine beratende Kapazität und vor allem auf seine in langen Jahren des Dienstes vernachlässigte Familie konzentrieren. So wird aus heutiger Sicht nicht ganz klar, weshalb die Wahl der Terroristen gerade auf ihn fiel. Nicht Moro, sondern der als Faschist verrufene Innenminister Francesco Cossiga (Fausto Russo Alesi) ist eigentlich Hassobjekt Nr. 1 der Brigate Rosse. Doch genießt Moro als Elder Statesman höhere Popularität – und außerdem ist bekannt, dass er übertriebenen Sicherheitsaufwand, etwa gepanzerte Fahrzeuge, um seine Person ablehnt. So kommt es bereits in Folge 1 zu dem dramatischen Überfall aus dem Hinterhalt auf Moro und seine Männer, von denen fünf im Kugelhagel mehrerer Hundert Patronen sterben, zu seiner Gefangennahme in einem Gelass einer klandestinen Wohnung in Rom und verschiedenen Versuchen diffuser Kontaktaufnahme der Entführer mit den regierenden Kreisen, die sich nach erstem Schock zu einer harten Linie ohne Verhandlungsbereitschaft entschließen. All dies erinnert fatal an die Frühphase des sogenannten Deutschen Herbstes und die Schleyer-Entführung des Jahres 1977.

Multiperspektivisches Gesellschaftspanorama

Nachdem die Auftaktfolge den ermatteten, ja geradezu wächsern-leichenhaften Zustand der politischen Verhältnisse und ihrer Protagonisten sowie die wesentlich dysfunktionalen Beziehungen zu ihren Frauen und Familien vorgeführt hat, fokussieren die folgenden Episoden auf jeweils eine Perspektive von den im Politdrama Agierenden oder zur Reaktion Genötigten. So werden nacheinander die Sichtweisen und inneren Konflikte des Innenministers, des amtierenden Papstes (Toni Servillo als Paul VI.), der ein Freund des tiefgläubigen Moro ist, der zunehmend an Zweck und Mitteln zweifelnden Terroristin Adriana Faranda (Daniela Marra) sowie von Moros mehr und mehr in Wut und Verzweiflung geratender Gattin Eleonora (Margherita Buy) entfaltet und kommentiert. Hierin tun sich durch die aggressiv-verantwortungslose Art und Weise ihrer Berichterstattung die modernen Massenmedien – wieder einmal – unrühmlich hervor.

Die Spannbreite der legitimen, im Parlament vertretenen politischen Positionen, wie sie in den 1970er-Jahren als Teil des europäischen Ost-West-Gegensatzes wirkmächtig waren, wird durch Bellocchio skizzenhaft, jedoch präzise wiedergegeben – vom verknöcherten Altfaschisten über zaudernde „Realisten“ (die Tomasi di Lampedusas „Leopard“ zitieren) bis hin zur allerorten plakatierten Parolenlyrik der extremen Linken – ästhetisch gestützt übrigens von authentischer Ausstattung und einem Soundtrack vom Schlager bis hin zum Avantgardisten Giacinto Scelsi. Der größte Schauwert kommt dabei ohne Frage der Figur des nachmaligen Staatspräsidenten Cossiga zu – in Bellocchios Sicht ein gefährlich zwanghafter Charakter, der am liebsten das gesamte italienische Volk am Telefon abhören würde und sehr zu Recht um seine befleckten Hände besorgt ist (eine sarkastische Anspielung auf die spätere politische Säuberungsaktion „mani pulite“).

Moralische & emotionale Kosten der Politik

Ihre Stärke entfaltet die Serie immer dann, wenn psychologisch glaubwürdig motiviert und involvierend gespielt die moralischen und emotionalen Kosten sowohl der modernen politischen Betätigung (jeglicher Couleur) als auch der Entscheidung zur bewaffneten, terroristischen Auflehnung gegen die spätbürgerlichen Verhältnisse an Einzelschicksalen vor Augen geführt werden. Hier gelingt Drehbuch und Regie sogar das fragwürdige Kunststück, einige der an sich widerlichen linken Spektakler menschlich und als individuell umrissene Personen vorzuführen, insbesondere Faranda, die ihrer Tochter für die Aktion entsagt hat und nun mit der Einstellung und dem Vorgehen ihrer Kombattanten schwer hadert. Ihre Introspektionen und existenziellen Überlegungen zur gerechtfertigten Tötung aus politischen Motiven gewinnen dabei beinahe Dostojewski’sche oder Camus’sche Qualitäten. Stark inszeniert wird auch Moros intimes spiegelbildliches Dilemma zwischen seinem Wunsch, unbedingt zu glauben, seinen Glauben auch in den Niederungen des politischen Tagesgeschäfts nicht einbüßen zu dürfen, und seinem konservativ-resigniert verzichtenden politischen Realismus.

Anderes gerät allzu folkloristisch oder verfällt dem Kitschverdacht, wenn etwa der zeitgleich in Turin gegen die Roten Brigaden geführte Prozess aus heutiger Sicht wie eine Farce, wie große italienische Oper anmutet oder der Papst, wohl selbst in einer milden Sinnkrise zum Ende seines Lebens, in einer Vision Aldo Moro das Kreuz Christi durch die nächtlichen Straßen Roms tragen sieht … Man lernt daraus: Ohne die – zumindest symbolische – Präsenz des Erlösers ist in Rom auch heute noch kein Film (und kein Staat) zu machen!

Kommentar verfassen

Kommentieren