Die Diagonale in Graz als Jahresschau des österreichischen Films erinnerte bei ihrer 28. Ausgabe (27.3.-1.4.2025) mit Blick auf gegenwärtige Entwicklungen an frühere Versuche, dem Festival einen politischen Stempel aufzudrücken. Kreativen Umgang mit Missständen und politischen Angriffen zeigte das Sonderprogramm „Österreich – Eine Satire“, dessen Arbeiten aus den Jahren 1977 bis 1989 sich als intelligent und brandaktuell erwiesen. Aber auch das aktuelle österreichische Kino verstand mit originellen Spiel- und Dokumentarfilmen zu glänzen.
Eine dicke Schneedecke hat sich im Winter 2010 auf Berlin gelegt. Nachts ist es still, der weiße Belag schluckt Geräusche, die Stadt wirkt wie in einem tiefen Schlaf. Aber nicht alle nehmen an ihm teil. Ivette Löcker, der die 28. Diagonale einen eigenen Fokus gewidmet hat, taucht in „Nachtschichten“ (2010) in dieses Berlin, um über mehrere Wochen verschiedene Menschen dabei zu beobachten, wie sie ihren Tätigkeiten bei Dunkelheit nachgehen. Da sind junge Graffitisprüher, mit denen Löcker und Kameramann Frank Amann heimlich auf Dächer steigen und einige Adrenalinstöße teilen. Ein einsamer Wanderer, der sich die Nacht zu seinem Freund erklärt hat, und an dessen Wohnungswänden dutzende Zettel kleben, auf denen Dinge stehen wie: „Gebrochene Männer sind blind für das, was sie sehen sollen.“ Und da ist eine Polizistin, die sich mit ihrem Mut einen Namen gemacht hat, und die während ihrer Schichten am Westhafen obendrein die Sicherheit von entlaufenen Enten im Blick behält.
Auch Dominik Kamalzadeh und Claudia Slanar, die seit vergangenem Jahr das „Festival des österreichischen Films“ verantworten, müssen für ihre Arbeit verschiedene Perspektiven einnehmen und verflechten. Mag es beim Zusammentragen eines jeweiligen Filmjahrgangs nur bedingt Auswahlspielraum geben, setzt die Intendanz ihre persönliche Note dafür umso mehr in der Gestaltung der Nebenschauplätze. Wurden 2024 personelle Schlaglichter auf Lisl Ponger und Christoph Hochhäusler geworfen, waren es 2025 besagte Ivette Löcker sowie Athina Rachel Tsangari.
Widmete man sich filmhistorisch zunächst mit „Die erste Schicht“ 60 Jahren Arbeitsmigration aus Sicht der Herkunftsländer und besah sich drei verschiedenen Fassungen von „Mädchen in Uniform“, wurde es diese Ausgabe düsterer, greller: „Aus dem Giftschrank“ nahm sich des verseuchten Erbes der Wien-Film und einiger ihrer propagandistischen Machwerke, entstanden zwischen 1939 und 1945, an. Der noch größere historische Block aber firmierte unter dem Titel „Österreich – Eine Satire“ und seinen sieben Programmen mit Filmen aus den Jahren 1977 bis 1989 von unter anderem Franz Novotny, Ernst Schmidt jr., Ashley Hans Scheirl, Ursula Pürrer, Mara Mattuschka, Michael Glawogger und Ulrich Seidl.
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Satire trotzt politischen Angriffen
„Komik kehrt Hierarchien um. Sie liebt die anarchische Kraft des Körperlichen und tritt dem Schauerlichen der Geschichte mit spöttischen Grinsen entgegen“, schreiben Slanar und Kamalzadeh. Eine Definition mit Allgemeingültigkeit. Dass sie dieser Tage eine besondere Brisanz besitzt, liegt auch an ganz konkreten Umständen, mit denen das Grazer Festival heuer konfrontiert war: Den Landeshauptmann der Steiermark stellt seit der letzten Wahl erstmals ein FPÖ-Mann. Vorher war dies in einem österreichischen Bundesland nur Jörg Haider gelungen. Und tatsächlich kündete die Diagonale-Website nur wenige Tage vor Eröffnung von einer Förderabsage, von der „leider Teile des Vermittlungsprogramms für Schüler:innen“ betroffen seien, auch das Kinderkino-Kurzfilmprogramm. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Dass die Diagonale bereits in der Vergangenheit politischen Angriffen ausgesetzt war, auch davon schreiben Kamalzadeh und Slanar in ihrem Vorwort zum Satire-Programm, das als zweite Ausgabe der kleinen, ansehnlichen Edition zum Festival im Czernin Verlag erschienen ist. So wehrte sich die österreichische Filmbranche 2004 gegen ein Intendantenteam, das vom damaligen Staatssekretär für Kunst und Medien bestellt wurde, mittels der sogenannten „Gegendiagonale“. Initiiert von Mara Mattuschka, entstand eine filmische Intervention, die „so einfach wie unmissverständlich“ war: „Die widrigen Umstände wurden weg-, dem Versuch der politischen Vereinnahmung ins Gesicht gelacht.“
Eine intelligente Schärfe, Wehrhaftigkeit mit den Mitteln der Kunst – Michael Glawogger und Ulrich Seidl setzten in „Krieg in Wien“ (1989) derweil auf den schwarzen Humor. Entstanden als Abschlussfilm Glawoggers an der Filmakademie, bringt er Weltgeschehen und Wien-Alltag in Dialog. Während auf den Philippinen eine Fähre mit tausenden von Menschen an Bord versinkt, versucht ein Kellner im kleinen Bereich zwischen Küche und Gastraum eine Zigarette zu rauchen und wird doch ständig unterbrochen. Wenn in Ramstein bei einer Flugschau zwei Militärflugzeuge kollidieren und anschließend ein Feuerball auf die Besuchermenge niedergeht, fährt ein Bus mit Touristen über die Wiener Ringstraße. Eine Lehrerin fragt sich, wie unter dem begrenzten Wiener Männerangebot der Richtige zu finden sei und ob es überhaupt lohne. Vor allem, da sie bereits ein Exemplar daheim hätte. Nachrichten-Stichprobe und Stadtmenschen-Porträt in einem, macht „Krieg in Wien“ einen Zustand der Gleichzeitigkeit sichtbar. Zwischen Tragödie und Banalität wird gelebt und gestorben, auf einer Säuglingsstation zappeln die Frühchen und in der Leichenhalle wird gerade eine Tür geöffnet.
Über abgesteckte
Grenzen hinaus
Verwandt mit Glawoggers und Seidls in alle Richtungen strebender Kompilation ist „Wienfilm 1896-1976“ (1977) von Ernst Schmidt jr., obschon die Rasanz hier auf die Spitze getrieben wird. Teilweise kaum mehr auseinanderzuhaltende Extrakte aus bald hundert Jahren Wien reihen sich atemlos aneinander, ein Text von Friederike Mayröcker wechselt mit einer beinahe burlesken Erzählung über eine städtische Psychiatrie, die in den Fäkalien ihrer Insassen zu versinken droht. Und immer wieder fragt ein Reporter: „Wem gehört Wien?“
Ohnehin dehnten sich viele Filme der diesjährigen Ausgabe über sauber abgesteckte Grenzen, verstanden sich darauf, lose zusammenzutragen und zu erforschen. Johannes Holzhausens Dokumentarfilm „Schlendern ist mein Metier“ mit und über den Schriftsteller Karl-Markus Gauß verschränkt Gedanken mit Orten, sucht im Geschriebenen und Nicht-Geschriebenen nach Linien und Pfaden. Ludwig Wüst widmet sich in „#Love“ einem thematischen Fundus, der die üblichen Kategorien von Liebe mühelos sprengt. Schon vor der Vorführung mahnte der Regisseur, das Entschlüsseln eines Narrativs besser aufzugeben, und erklärte, die Arbeit an seinem Film wäre gewesen, wie mit der Hand ins Meer zu greifen. So stehen in „#Love“ unerquickliche Webcam-Kommunikation und ein Selbstmord vor laufender Kamera nebeneinander, während ein Mann im Keller von seiner sexuellen Genese berichtet. Zwischendrin bricht ein Vulkan aus, Anlass für schaulustige Pärchen, vor der Naturgewalt zu positionieren und Selfies zu inszenieren.
Dem idealen Bild ist in Birgit Bergmanns und Oliver Weranis „Mütter“ indes niemand verpflichtet. Das Setting: schlicht. Die Menschen vor der Kamera: echt. Sie alle berichten davon, was es bedeutet, Kinder zu bekommen und großzuziehen, teilen Scham- wie Schuldgefühle, Depressionen und Überforderung. Das dokumentarische Filmen gewährt ein Gefäß, in das Überlegungen und Erinnerungen fließen. Angelehnt an „Küchengespräche mit Rebellinnen“ (1984) von Karin Berger, Elisabeth Holzinger, Lotte Podgornik und Lisbeth N. Trallori, stellt in „Mütter“ die Küche den Drehort und weist gleichzeitig auf den räumlichen Dreh- und Angelpunkt des Familienlebens – für die einen als „Hölle“ empfunden, von anderen als „Oase“ genossen.
Entgleisung als
Tor zur Gegenwart
Ein von Funktionalität und Emotionen aufgeladener Bereich, der in Bernhard Wengers „Pfau – Bin ich echt?“ schon gar keine Rolle mehr spielt, derart entkoppelt bewegt sich Matthias (Albrecht Schuch) in seiner unpersönlichen Designer-Wohnung. Wengers Langfilmdebüt eines mietbaren ultimativ Anpassungsfähigen gesellt sich in seinem trockenen, präzisen Humor als zeitgemäßer Kommentar zum Diagonale-Satire-Programm. Und in gewisser Weise gilt das auch für „How to Be Normal and the Oddness of the Other World“ von Florian Pochlatko, nicht nur ein Film über die entgleisende Pia (Luisa-Céline Gaffron), sondern auch, wie im Katalogtext treffend beschrieben: „Ein Tor zu unserer Gegenwart, dieser Zeit der Monster.“
Schienen die Monster vor fünfzehn Jahren noch gefroren und verborgen unter Schnee und Eis, über das sich, manchmal, gedankenverloren streifen ließ, sind sie nunmehr aufgetaut. Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh haben für 2025 jedenfalls ihre Strategie benannt: „Da hilft wiederum vielleicht nur ein Lachen: solidarisch, gegen Missstände und nicht zuletzt auch, um Kräfte zu sammeln.“ Sie werden gebraucht.