Die Farbe der Lüge

- | Frankreich 1998 | 112 Minuten

Regie: Claude Chabrol

Als in einem bretonischen Küstenstädtchen die Leiche eines zehnjährigen Mädchens entdeckt wird, gerät dessen Zeichenlehrer unter Mordverdacht. Während seine Frau den Gerüchten im Dorf entgegentritt und versucht, die ermittelnde Kommissarin von der Unschuld ihres Mannes zu überzeugen, bahnt sich zwischen ihr und einem bekannten Schriftsteller aus der Nachbarschaft eine Romanze an. Als dieser tot aufgefunden wird, gerät ihr Mann erneut ins Zentrum der Ermittlungen. Distanziert inszenierte Kriminal-, Provinz- und Liebesgeschichte, die ein hintergründiges Verwirrspiel um Lüge und Wahrheit betreibt, aber auch die Kraft der Liebe beschwört. Vor allem die ausgezeichnet geführten, intensiv spielenden Schauspieler und viele Verweise auf Chabrols frühere "filmische" Abrechnungen mit der Bourgeoisie machen den 50. Film des "Nouvelle Vague"-Mitbegründers zu einem nicht nur intellektuellen Vergnügen. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
AU COEUR DU MENSONGE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
MK2/France 3 Cinema
Regie
Claude Chabrol
Buch
Odile Barski · Claude Chabrol
Kamera
Eduardo Serra
Musik
Matthieu Chabrol
Schnitt
Monique Fardoulis
Darsteller
Sandrine Bonnaire (Viviane) · Jacques Gamblin (René) · Valeria Bruni-Tedeschi (Frédérique Lesage) · Antoine De Caunes (Germain-Roland Desmot) · Bernard Verley (Inspektor Loudun)
Länge
112 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Wenn man einmal von seinem 53 Sekungen-Beitrag zur 100-Jahre-Film-Hommage „Lumière & Compagnie“ (1995) absieht, feiert Claude Chabrol mit „Die Farbe der Lüge“ seine goldene „Kino-Hochzeit“. Und wie üblich bei solch feierlichen Anlässen, blickt man gerne zurück auf seinen bisherigen filmischen Lebensweg. So ist das 50. Kino-Ouevre jenes Regisseurs, der 1957 mit „Die Enttäuschten“ („Le Beau Serge“) die „Nouvelle Vague“ aus der Taufe hob und sie als Mentor seiner von der Kritik zur Regie gewechselten Kollegen Eric Rohmer, Philippe de Broca und Jacques Rivette nachhaltig förderte, auch durchzogen von jenen „Erinnerungen“, die die meisten seiner Filme so unverwechselbar machen: seine Haßliebe zur Bourgeoisie, der er wieder einmal den Spiegel vorhält, seine Meisterschaft, das „Böse“ in den Alltag schleichen zu lassen und nicht zuletzt seine Liebe zum Landleben und zu starken Frauen(-Figuren). All das ergibt „Die Farbe der Lüge“, dessen kalt-blaue Bilder von Beginn an in eine irritierende Stimmung ziehen, in der Wahrheit und Lüge nur scheinbare Gegensätze sind.

In dem verschlafenen bretonischen Küstenort St. Malo wird die Leiche der zehnjährigen Eloise gefunden. Die junge, gerade erst beförderte Kommissarin Frédérique Lesage verhört als ersten Eloises Zeichenlehrer René, einen nach einem Unfall gehbehinderten und erfolglosen Maler, der mit seiner ebenfalls zugereisten Frau Viviane, einer Krankenpflegerin, am Rande des Dorfes wohnt, und der Eloise als letzter lebend gesehen hat. Die Kommissarin macht keinen Hehl aus ihrem Verdacht, und auch im Ort scheint man das Urteil schon gefällt zu haben: René verliert nach und nach all seine Schüler. Viviane versucht verzweifelt gegen die Gerüchte anzukämpfen, hält den Kontakt zur Dorfgemeinschaft aufrecht und legt sich sogar mit Frédérique an. Der ohnehin von Selbstzweifeln geplagte René zieht sich immer mehr in sich zurück, belastet damit auch sein Verhältnis zu Viviane, die in Gefahr gerät, dem Werben des eitlen Erfolgsschriftstellers Desmot zu erliegen, der im Ort eine Sommerresidenz besitzt. René ahnt mehr, als er weiß und als er nach einem gemeinsamen Abendessen Desmot nach Hause bringt, findet man den Medienstar am nächsten Morgen tot in den Klippen. Wieder gerät René in Verdacht. Obwohl einige Indizien gegen ihn sprechen, wird der Fall als Unfall zu den Akten gelegt und auch im Mordfall der kleinen Eloise bahnt sich eine überraschende Lösung an.

Schon die ersten Einstellungen ziehen dem Zuschauer den Boden unter den Füßen weg: Irgendwie bekommt diese eigentlich alltägliche Szene, in der Viviane zur Arbeit geht und sich von René verabschiedet, durch den Blick in ihre Gesichter etwas Beunruhigendes und durch die, René aus der Froschpersepktive beobachtende, Kamera auch etwas bedrohliches, zumal nach dem Umschnitt jene Sequenz folgt, in der das tote Mädchen entdeckt wird. Ehe man die Figuren richtig einordnen kann, wird man in ein Geflecht von Lügen, Halbwahrheiten und vielsagendem Schweigen verstrickt, wobei sich die Suche nach der „Wahrheit“ immer mehr als Nebensächlichkeit erweist, der Blick hinter die Fassaden der Protagonisten (und der Gesellschaft) aber zu einer spannenden Entdeckungsreise in die (Un-)Tiefen ihrer Wünsche, Verdrängungen und Leidenschaften, aber auch in Abgründe wird, in denen der Zuschauer sich nicht selten wiederfindet. So wie in jenem „Eingeständnis“ Renés, daß er in Gedanken Desmot sicherlich schon getötet hat, und das an seiner Unschuld über den Film hinaus zweifeln läßt, während man sich trotz allem Verwirrspiel beharrlich weigert, in ihm den Kinderschänder zu sehen. Genausowenig will man wahrhaben, daß hinter der piepsigen und frustriert wirkenden, alleinerziehenden Frédérique eine taffe Kommissarin steckt, die die „Lügen“ professionell einsetzt, um hinter die Wahrheit zu kommen. Hinter der selbstgefälligen Aufschneiderei Desmots wird seine Einsamkeit deutlich, die ihn immer wieder ein wenig hilflos und verwundbar wirken läßt. Aber wie Arbeitsbienen ihre Königin umschwirren, so kreisen all diese Protagonisten um Viviane, eine jener für Chabrol typischen, starken Frauen-Figuren, die dem Film seine (Überzeugungs-)Kraft gibt. So wird aus dieser Kriminal-, Dreiecks- und Provinzgeschichte auch ein wunderbarer Film über die Liebe, die letztlich über alle (Not-)Lügen hinweg triumphiert. Dabei gelingen Chabrol und seiner Co-Autorin Odile Barski Szenen von berührender Wahrhaftigkeit, etwa als Viviane von einer (nicht vollzogenen) Liebesnacht mit Desmot zurückkehrt und René währenddessen ein Bild gemalt hat, das sie nackt mit einem nicht zu erkennenden Mann im Hintergrund zeigt. Wie Lüge und Wahrheit manchmal dicht beieinanderliegen, treffen sich hier Liebe und Verrat. Ohne es auszusprechen, haben beide die Zeichen verstanden und werden es letztlich nicht zulassen, daß die Verlogenheit über ihre Liebe triumphiert.

Traumwandlerisch führt Chabrol sein Darsteller-Ensemble durch die manchmal mit kühl erscheinender Distanz inszenierte Geschichte: Jacques Gamblins mit spöder Zurückhaltung gespielter René strahlt die Verwundbarkeit eines zutiefst verunsicherten Menschen aus, Valeria Bruni-Tedeschis Kommissarin ist eine, wie man sie im Kino noch nie gesehen hat, ein Anti-Klischee, an das man sich selbst am Ende noch nicht so recht gewöhnt hat. Und Antoine de Caunes schafft es, dem Zuschauer Sympathie für seinen selbstverliebten Schriftsteller abzugewinnen, wirkt er doch manchmal wie ein großer Junge, der in den Arm genommen werden will. Ohne die anderen an die Wand zu spielen, bleiben die schauspielerischen Highlights aber Sandrine Bonnaire vorbehalten: Als sie Desmot ohne „Vorwarnung“ auffordert, sie zu küssen, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt, da blickt aus ihren Augen eine gleichwohl unwidersteheliche wie auch unschuldige Lust, die die Szene zu einer der erotischsten macht, die man seit langem im Kino gesehen hat. Daß man in den Nebenrollen mit Bernard Verley und Bulle Ogier ein paar gute alte Bekannte aus „Nouvelle Vague“-Zeiten wiedertrifft, „adelt“ den Film genauso wie der Soundtrack von Chabrols Sohn Matthieu, der längst aus dem Schatten seines Lehrmeisters Pierre Jansen, Chabrols früherem Hauskomponisten, herausgetreten ist und die inszenatorischen Vorgaben seines Vaters kongenial in Töne umzusetzen versteht. So wird man nicht nur auf der Bild-, sondern auch auf der Tonebene an Chabrols „Hochzeit“ und Vergangenheit erinnert.
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