Die Einsamkeit der Krokodile

Literaturverfilmung | Deutschland 2000 | 96 Minuten

Regie: Jobst Oetzmann

Ein lebensunsicherer Journalist begibt sich auf die Spur eines jungen Außenseiters, der sich nach einer repressiven, von Zwängen, Lieb- und Verständnislosigkeit geprägten Kindheit und Jugend in einem ostwestfälischen Dorf das Leben nahm. Dabei werden seine Nachforschungen zunehmend zum Rettungsanker des eigenen, nicht minder gefährdeten Daseins. Ein facettenreich zwischen schwarz-humoriger Posse und tieftrauriger Tragödie angesiedelter Film, der ebenso spielerisch wie raffiniert menschliche Befindlichkeiten zwischen utopischer Aufbruchsstimmung und resignativer Anpassung auslotet. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Olga-Film/ZDF
Regie
Jobst Oetzmann
Buch
Jobst Oetzmann
Kamera
Hanno Lentz
Musik
Dieter Schleip
Schnitt
Christel Sukow
Darsteller
Janek Rieke (Elias) · Thomas Schmauser (Günther) · Julia Jäger (Heike) · Rosemarie Fendel (Frau Sperl) · Renate Krößner (Friede)
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Literaturverfilmung | Tragikomödie
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Von der „Einsamkeit der Krokodile“ ist im Film gar nicht mehr die Rede, und man muss auf Dirk Kurbjuweits gleichnamigen, 1995 erschienenen Roman zurückgreifen, um die ebenso schöne wie traurige Stelle zu entdecken, in der es um ein ausgewachsenes Krokodil geht, das in einem kleinen Becken schwimmt und zu dem niemand hinabzusteigen wagt, weshalb seine Einsamkeit endgültig und unausweichlich ist. Übertragen auf Jobst Oetzmanns Film, paraphrasiert dieses tragische Sinnbild vage, aber intuitiv durchaus nachvollziehbar die erschütternde Lebenssituation eines begabten jungen Fleischersohnes aus Ostwestfalen: Günther ist zwar alles andere als gefährlich, aber dennoch wagt sich in der miefigen dörflichen Gemeinschaft niemand an den schüchternen Außenseiter heran – seine Eltern erziehen ihn ohne Einfühlungsvermögen streng nach der Norm dessen, was man „auf dem Dorf“ für „normal“ erachtet; die Schulkameraden necken und foppen, drangsalieren und demütigen ihn, und dies am liebsten aus der Ferne, ohne dass irgendjemand auch nur ansatzweise seine Einsamkeit, seine Sehnsüchte und Träume erkennen würde. Der empfindsame junge Mann, für den weder das Musizieren noch das Studium die Möglichkeit eines Ausbruchs eröffnet, geht regelrecht vor die Hunde – „eine elendere Gestalt habe ich noch nie gesehen“, resümiert Tante Gisela, die dem Journalisten Elias Günthers tragische Lebensgeschichte ins Mikrophon erzählt, bis zu Günthers Tod, von dem nie ganz klar wird, wie es dazu kam. Als auch die Tante stirbt, macht sich Elias, bewaffnet mit einer Schreibmaschine und den Tonbändern, ins ostwestfälische Dorf auf, um Günthers Leben und Sterben zu rekonstruieren. Dabei geht es ihm um mehr als lediglich eine Story, denn von Beginn an spürt der nicht minder lebensunsichere Elias eine Wesensverwandtschaft mit dem verängstigten Außenseiter, der die Normen nicht erfüllte; und wie dieser sucht auch Elias nach einer Definition dessen, was „Normalität“ ist, und nach einem Weg, seine Angst, ein „Andersdenkender“ zu sein, zu überwinden. Facettenreich komponiert Oetzmann Szenen einer repressiven, von Zwängen, Lieb- und Verständnislosigkeit geprägten Kindheit und Jugend in tiefster deutscher Provinz, die sich allmählich zu einem Soziogramm menschlicher Befindlichkeiten zusammenfügen. Die Grenzen zwischen schwarz-humoriger Posse und tieftrauriger Tragödie werden ebenso spielerisch wie raffiniert aufgelöst, wobei es ein ausgesprochen geschickter Kunstgriff ist, das Schicksal Günthers in dem von Elias zu spiegeln und sichtbar zu machen, dass dessen Nachforschungen zunehmend zum Rettungsanker seines eigenen, nicht minder gefährdeten Lebens werden. Nähe und Distanz befinden sich im permanenten Wechsel und bestimmen den erzählerischen Rhythmus: Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander, bis zur Plakativität ausgereizte satirische Szenen (Günthers Kindheit im weiß gekachelten Schlachthaus des Vaters) stehen unmittelbar neben einfühlsamen Momenten stiller Verzweiflung; die empfindungslose Kälte der Dorfbewohner reibt sich an der utopischen Liebe der unkonventionellen Hotelwirtin Heike zu Elias – ähnlich wie Günther für kurze Zeit die Liebe der lebenshungrigen Schwarzen Mary erlebte. Dass der Film als sympathische, gleichermaßen von Herzenswärme und Humor erfüllte Paraphrase über die Unvollkommenheiten des Daseins überzeugt, liegt an den hervorragenden darstellerischen Leistungen, der stringent eingesetzten, aufwändig komponierten und instrumentalisierten Musik mit Michael-Nyman-Anklängen, der pointierten Montage, die die Zeitebenen elegant verbindet, und vor allem an der betont sinnlichen Umsetzung der Fabel in mal pralle, mal subtile filmische Momente. Dabei werden die leisen Szenen von unterschwelliger Spannung immer wieder von donnernden Tieffliegern in Aufruhr versetzt, bis ihnen Elias mit aller Kraft seine aufgestauten Empfindungen entgegenbrüllt. Oetzmann gelang eine bemerkenswerte, fast „französische“ Inszenierung, so, als ob Truffaut und Chabrol gemeinsam einen satirischen Provinz-Liebesfilm-Krimi ersonnen hätten.
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