Drama | Frankreich 2002 | 88 Minuten

Regie: Patrice Chéreau

Ein Mann Mitte 30 leidet an einer seltenen Bluterkrankung und sucht die Nähe seines Bruders, als er einen Rückfall erlebt. Sieben Monate später gibt er den Kampf auf und nimmt sich das Leben. Ein komplexe filmische Studie über die körperliche Existenz des Menschen und ihre Hinfälligkeit. Durch seine große Intensität sowie seine formale Radikalität spannt der Film ein weites Assoziationsnetz auf, wobei er eindringlich von der Würde des Humanen handelt. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
SON FRERE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Azor/arte/Love Streams
Regie
Patrice Chéreau
Buch
Patrice Chéreau · Anne-Louise Trividic
Kamera
Eric Gautier · Irina Lubtchansky
Schnitt
François Gedigier · Simon Jacquet
Darsteller
Bruno Todeschini (Thomas) · Eric Caravaca (Luc) · Maurice Garrel (alter Mann) · Antoinette Moya (Mutter) · Fred Ulysse (Vater)
Länge
88 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Patrice Chéreaus Filme erzählen keine „Geschichten“, noch handeln sie im klassischen Sinn von Figuren oder Charakteren. Sie gleichen eher plastischen Reliefs oder mittelalterlichen Tafelbildern, die Blick für Blick, Einstellung für Einstellung mit den Augen durchmessen werden wollen. Ihre „Lektüre“ tendiert zur Erfahrung, weil der Gang der Ereignisse nur eine vage Richtung vorgibt, aber ein Meer an Bezügen, Fragen und Diskursen eröffnet. „Sein Bruder“ handelt vom siebenmonatigen Sterben eines Mannes Mitte 30, der an einer seltenen Blutkrankheit leidet. Die Ärzte tappen im Dunkeln, warum Thomas’ Körper die Blutplättchen zerstört, die bei Verletzungen das Blut gerinnen lassen. Nach einem neuerlichen Rückfall sucht er Hilfe bei seinem älteren Bruder Luc, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Luc begleitet ihn ins Krankenhaus, informiert die Eltern und Thomas Freundin, pflegt und umsorgt ihn. Wortlos zumeist, weil er wie alle anderen von der Situation überfordert ist. Die Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern beginnen erst später, im Sommer in der Bretagne, nachdem Thomas die Milz entfernt wurde. Der Erfolg des Eingriffs ist allerdings begrenzt. Dem Leben als „Bluter“ zieht Thomas den Tod vor; eines Abends verschwindet er im Meer. So lässt sich in groben Strichen der „Plot“ des Films skizzieren, dessen Chronologie Chéreau allerdings radikal zertrümmert. Es beginnt mit dem Ende, dann springt der Film zurück an den Anfang, um bald darauf zweistrahlig weiterzufahren, wobei Krankenhaus- und Küstenszenen so ineinander geschlungen sind, dass jede Orientierung in den Hintergrund tritt. Es gibt hier so wenig einen „olympischen“ Erzähler wie es einen distanziert-analysierenden Zuschauer geben soll. In Chéreaus physischem Kino ist man wie im wirklichen Leben immer schon involviert und ringt um Einsicht und mit den Gefühlen, dem äußeren Geschehen gegenüber, aber auch mit sich selbst und seinem Körper. Diskontinuität, Ungleichzeitigkeit, ist dabei vielleicht der ästhetische, aber auch ein inhaltlicher Schlüssel. Bereits in der Eingangssequenz – Thomas, Luc und ein alter Säufer sitzen auf einer Steinbank und schauen aufs Meer – passen die Dialoge nicht zusammen; die Nahaufnahmen der Köpfe isolieren die Einzelnen und lassen sie ins Leere sprechen; andere Aufnahmen „staffeln“ sie in Vorder- und Hintergrund, was Nähe und Distanz zugleich spürbar macht. Durch die ruhige, aber stark fragmentierte Erzählweise wird man fast von selbst auf die kontemplative „Sprache“ der Bilder verwiesen, die über die inneren Bewegungen der Figuren mehr Auskunft geben als deren spärliche Sätze oder Gesten. Thomas steht oft im Halbdunkel, aus dem er seinen Bruder oder andere Patienten distanziert beobachtet; Luc hingegen liegt, aufgebahrt, ausgestellt, im Licht: eine ausgezehrte Elendsgestalt, deren Ohnmacht bei der Rasur vor der Operation minutenlang in Echtzeit gezeigt wird. Der „Sinn“ einer solchen Szene ist kaum auslotbar, so konträr spannt sich das Assoziationsgeflecht von inhumaner Apparate-Medizin bis zu ikonografisch-religiösen Anklängen. Gleiches gilt für den ganzen Film, dessen Vielschichtigkeit wenigstens in zwei Punkten angedeutet sei: Die Unmittelbarkeit der Inszenierung „zwingt“ zu einer fast physischen Wahrnehmung körperlicher Existenz; selten sind Körper so körperlich und zugleich geheimnisvoll gefilmt worden. Und: Trotz des Entsetzens über deren Hinfälligkeit verfällt Chéreau in keinen Zynismus, sondern spricht von einer Würde, die selbst noch im Sterben Haltung gewährt.

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