Supertex - Eine Stunde im Paradies

Drama | Deutschland/Niederlande 2003 | 95 Minuten

Regie: Jan Schütte

Der Erbe eines Amsterdamer Textilimperiums muss sich gegen seinen Willen mit dem Gehabe seines jüdischen Vaters, der orthodoxen Familientradition und dem Holocaust auseinandersetzen. Überzeugende Verfilmung eines Erfolgsromans, in deren Verlauf der Protagonist die schmerzhafte Erfahrung macht, mit den überkommenen kulturellen Wurzeln mehr zu tun zu haben, als er sich bislang eingestehen wollte. Trotz komischer Züge ist die lustvoll erzählte Familiengeschichte vor allem eine Meditation über Selbstverwirklichung und Identität, Schicksal und Tradition in Zeiten der Globalisierung. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SUPERTEX
Produktionsland
Deutschland/Niederlande
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
HaleBob Film/Novoskop Film/Minerva Film/Tobis Filmproduktion/WDR/Arte/Arte France Cinema/Covimages
Regie
Jan Schütte
Buch
Richard Reitinger · Andrew Kazamia · Jan Schütte
Kamera
Edward Klosinski
Musik
Zbigniew Preisner
Schnitt
Renate Merck
Darsteller
Stephen Mangan (Max Breslauer) · Jan Decleir (Simon Breslauer) · Maureen Lipman (Dora Breslauer) · Elliot Levey (Boy Breslauer) · Tracy-Ann Oberman (Lea van Gelder)
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion
Die Zeichen mehren sich ganz allmählich: Die Welt des Max Breslauer gerät aus den Fugen. Dabei könnte der älteste Sohn des Amsterdamer Billigtextilimperiums „Supertex“ zufrieden sein: Er ist wohlhabend, robust, zynisch, hat Geschmack, eine schöne Freundin und ist durch und durch säkularisiert. Die jüdische Traditionspflege, das jüdische Gehabe seines Vaters Simon, der als einziger seiner Familie die Pogrome von Lemberg überlebte, findet er pathetisch, seinen parvenühaften Pragmatismus abstoßend. Jahrelang hat Max seine Energie aus den zähen Auseinandersetzungen mit dem egozentrischen Familienpatriarchen gezogen, hat sich vom Vater losgesagt, sich emanzipiert, ist aus Protest Anwalt geworden und schließlich doch als stellvertretender Direktor in den Familienbetrieb zurückgekehrt. Nur um dort ein weiteres Mal vom Vater vor versammelter Mannschaft gedemütigt zu werden. Dabei weiß Max genau, dass die Tage des väterlichen Betriebs im Zeichen der Globalisierung ökonomisch gezählt sind. An einem Samstagmorgen rast Max im Sportwagen die Grachten entlang und fast in eine orthodoxe Familie hinein, die gerade auf dem Weg in die Synagoge ist. Fast nebenbei wird er gefragt: „Was macht ein Jude am Schabbesmorgen in einem Porsche?“ Aus irgendeinem Grund trifft diese Frage Max ins Mark, sie lässt ihn nicht mehr los, lässt sich nicht verdrängen. Andere Dinge kommen hinzu. Max’ Freundin Esther entscheidet sich dafür, nach dem überraschenden Selbstmord ihres Ex-Mannes künftig in Israel zu leben. „Mitten im Krieg“, wie Max fassungslos konstatiert. Vater Simon, der Emporkömmling, der sich sein Ungebildetsein zugute hält, hat seit Jahren eine attraktive blonde, aus Polen stammende Geliebte, die aufgrund eines Unfalls ihre Modelkarriere abbrechen musste. Boy, Max’ jüngerer Bruder, wusste offenbar seit langem davon, Max dagegen nicht. Boy ist eigentlich der Loser der Familie, er hat sich im Schatten des übermächtigen Vaters gut eingerichtet; scheinbar hat Max ihn unterschätzt. Max ist verstört und verunsichert, reagiert arrogant und ungehalten auf all dies. Nichts mehr ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint. In einer sehr komischen Szene hat sich Max mit Maria, der Geliebten seines Vaters, in einer Bar verabredet und trifft auf eine Frau, die seiner Vorstellung dieser Geliebten akkurat entspricht. Nach einem kurzen Gespräch stellt sich aber heraus, dass es sich um eine Verwechslung handelt, die Frau ist eine Prostituierte. Als dann Maria erscheint, kommt es zum Eklat, weil die Prostituierte Maria für eine konkurrierende Kollegin hält.

In solchen Momenten zeigt sich die Bedeutung dessen, dass Jan Schütte sich entschieden hat, die Ich-Erzählung der literarischen Vorlage gewissermaßen durch eine personale Erzählperspektive zu „objektivieren“. In Leon de Winters Romanvorlage erzählt Max seiner Psychiaterin in puzzleartigen Erinnerungsepisoden von seiner Lebenskrise. Schütte verallgemeinert diese individuelle Krise durch den gewählten Kniff zu einer umfassenden (Ver-)Störung eines Familienverbandes von Mitteleuropäern, die auf mehr oder weniger schmerzhafte, auf mehr oder weniger komische Weise die Begrenzungen eines Materialismus skizziert, der ohne Bewusstsein der eigenen Geschichte in „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Lukács) lebt. Er tut dies allerdings auf eine aufregend lässige und äußerst elegante Art, was gewiss auch in der Qualität der Romanvorlage begründet ist, die eben durch die Wahl der in Amsterdam beheimateten jüdischen Familie einen Rahmen absteckt, der einerseits die Pogrome der NS-Zeit, andererseits aber durch die Figur der aus einer sephardischen Familie stammenden Esther auch die Diaspora des Mittelalters umfasst. Doch die jüdische Geschichte wird durch individuelle Biografien vermittelt. Als Vater Simon schwer verunglückt, ist es für die Brüder Breslauer an der Zeit, einige Entscheidungen zu treffen. Doch Boy kehrt von einer Dienstreise nach Casablanca nicht mehr zurück. Er hat sich dort verliebt, wird zum Orthodoxen und beginnt ein Geschäft mit Toilettenhäuschen in der Medina von Casablanca. Doch auch Max muss schmerzhaft erfahren, dass er viel mehr mit seinem Vater gemein hat, als er sich bislang einzugestehen vermochte.

Die Finanzierung von „Supertex“ hat Jahre gedauert. Erste Pläne zur Verfilmung des Erfolgsromans von 1991 datieren von 1999. Zwischenzeitlich fand Regisseur Jan Schütte sogar noch Zeit für ein anderes Projekt: „Abschied – Brechts letzter Sommer“ (fd 34 445). Doch die Geduld und Beharrlichkeit haben sich gelohnt: „Supertex“ ist ein eleganter, präziser, sehr professioneller Ensemblefilm voller kleiner und großer Handlungsvolten, der souverän mehrere divergierende Tonarten anschlägt und sich auf verschiedenen Ebenen lesen lässt. Es ist europäisches Qualitätskino par excellence, kein „Europudding“: Die Gesichter der Darsteller sind unverbraucht, Kamera und Montage dienen funktional der Lust am Erzählen. „Supertex“ ist eine Familiengeschichte mit durchaus komischen Zügen, aber zugleich eine Meditation über Selbstverwirklichungsansprüche und Identität, vielleicht auch über die Dialektik von Schicksal und Tradition in Zeiten der Globalisierung. Und nicht zuletzt handelt der Film auch vom Nachwirken des Holocaust, dessen Spuren in Mitteleuropa noch immer an jeder Straßenecke virulent sind.

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