Erbsen auf halb 6

- | Deutschland 2003 | 111 Minuten

Regie: Lars Büchel

Die ebenso unterhaltsame wie einfühlsame Geschichte einer "unmöglichen" Liebe: Eine lebensfrohe junge Frau, von Geburt an blind, begegnet einem Theaterregisseur, der bei einem Autounfall sein Augenlicht verloren hat. Während sie vor Optimismus strotzt, droht er an seiner Blindheit zu verzweifeln, stellt alles und jeden in Frage und kann nicht akzeptieren, dass es ein an Sinnen, Wahrnehmungen und Empfindungen reiches Leben jenseits des Sehens gibt. Ihre gemeinsame Odyssee bis ans Weiße Meer in Russland ist eine Reise in die Herzen zweier Menschen, wobei der hervorragend inszenierte und gespielte Film ebenso selbstbewusst wie unbekümmert über die Stränge der Logik schlägt und für die "Magie" des Lebens und der Liebe jenseits des allzu Selbstverständlichen wirbt. - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Senator Film
Regie
Lars Büchel
Buch
Ruth Toma · Lars Büchel
Kamera
Judith Kaufmann
Musik
Max Berghaus · Dirk Reichardt · Stefan Hansen
Schnitt
Peter R. Adam
Darsteller
Fritzi Haberlandt (Lilly) · Hilmir Snaer Gudnason (Jakob) · Harald Schrott (Paul) · Tina Engel (Regine) · Jenny Gröllmann (Franziska)
Länge
111 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Externe Links
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Heimkino

Die Extras beinhalten u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs und der Darstellerin Fritzi Haberlandt sowie ein Feature mit nicht verwendeten Szenen. Des weiteren gibt die DVD die Möglichkeit, den Film in einer Hörfassung für Blinde wahrzunehmen.

Verleih DVD
EuroVideo (16:9, 2.35:1, DD5.1 dt.)
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Diskussion
Der Beginn ist ein sensibles, zugleich höchst suggestives Herantasten an das Thema: eine Hand, die einen Wasserstrahl ertastet; eine Frau, die sich im Dunkeln traumwandlerisch sicher bewegt, wobei sie sich offensichtlich nicht auf ihre visuellen Sinne verlässt; sie ersteigt den Sprungturm in einer Badeanstalt, findet mit den Füßen die richtige Position, springt ab und taucht, perfekt abgestimmt, ins Wasser. Eine blinde Frau, die in sich ruht, ihre Wahrnehmungen zu kontrollieren und zu nutzen weiß. Die Harmonie dieser kontemplativen Szenenfolge wäre betörend, würde sich nicht in einer stakkatoartig parallel montierten Handlung der Autounfall eines Mannes dazwischen drängen: Jakob, ein erfolgreicher Theaterregisseur, ist so in Gedanken, dass er das signalartige Glühen des Zigarettenanzünders nicht wahrnimmt, das dem Zuschauer längst Gefahr suggeriert. So verliert er die Kontrolle über den Wagen, und es kommt zur Katastrophe – Jakob verliert sein Augenlicht. Im Krankenhaus finden beide zusammen: Die junge Lilly, von Geburt an blind, soll dem verzweifelnden – und zweifelnden – „Augenmenschen“ Jakob, der mit einem Schlag all das nicht mehr sehen kann, was er inszeniert, den Weg in die Rehabilitation erleichtern. Doch Jakob ist abweisend, barsch und verletzend. Während er sich mit einem mehr gestammelten als gesungenen Kinderlied zur inneren Ruhe zu zwingen versucht, stößt er die Menschen in seiner Umgebung von sich, will nicht als Pflegefall von ihrem Mitleid abhängig sein. Doch so wenig er sein bisheriges Leben weiter führen kann, so sehr verweigert er sich der Chance, auch als Blinder ein selbstbestimmtes, vielleicht auch erfülltes Leben zu führen. Verschlimmert wird seine Situation noch durch den nahenden Tod seiner krebskranken Mutter, einer Künstlerin, die irgendwo am Weißen Meer lebt, eine letzte Installation schafft und auf ihren Sohn wartet. Doch wie soll der den weiten Weg nach Russland meistern?

Es ist eine höchst schwierige, unter den strengen Kriterien von Logik und Verstand nahezu unlösbare Konfliktsituation, der sich Lars Büchel als Ausgangssituation für seinen dritten Spielfilm stellt: einer „unmöglichen“ Liebesgeschichte zwischen zwei durch eine Verkettung von Zufälligkeiten auf sich selbst gestellten blinden Menschen, und zugleich einem Road Movie, das sich in einer kühnen (Flucht-)Bewegung von West nach Ost begibt, den eigenen Kulturraum verlässt und sich anderen, sinnlicheren, spirituellen Wahrnehmungen und Lebenshaltungen öffnet. Tatsächlich ist es ein kleines „Wunder“, wie souverän Büchel die Sinne des Zuschauers lenkt und für eine andere, „innere“ Logik und Glaubwürdigkeit der Geschichte sensibilisiert. Mit liebevollem Forscherdrang nutzt er die Kunstgeheimnisse des idyllisch-gefühligen, uneingeschränkt affirmativen Erzählkinos, das in Hollywood zwangsläufig in eine triviale Schnulze münden würde, wobei auch Büchel nicht die geringsten Berührungsängste vor (vermeintlicher) Trivialität und herzerreißender Gefühligkeit zeigt. Da er jedoch inzwischen eine beachtliche handwerkliche Perfektion und Souveränität erreicht hat, gelingt ihm der Spagat auf dem schmalen Grat von absichtsvollem „Kitsch“ und lustbetonter Ironie nahezu immer, mit der er die Handlung anreichert und „intellektualisiert“. So kann man einerseits die dornen- und umwegreiche Liebesgeschichte von Lilly und Jakob ungebrochen naiv genießen und sich dabei trefflich unterhalten, ohne auf der anderen Seite je die Bodenhaftung zum ernsten Kern der Fabel zu verlieren; wobei immer wieder fasziniert, wie geschickt Büchel das Tragische ins Befreiend- Komische kippen lässt, das Ruder aus der Verzweiflung ins Prinzip Hoffnung herumreißt.

„Ich bin nicht blind – ich kann nur nicht sehen“, umreißt Lilly einmal ihre Situation und deutet damit an, dass das fehlende Augenlicht sie nicht „betriebsblind“ für die eigentlichen Werte des Lebens macht – eher im Gegenteil: Sie, die nicht einmal weiß, was Sehen bedeutet, „sieht“ auf ihre Art mit den Fingern, mit dem Gehör, mit ihrem ganzen Körper. Ihre Wahrnehmung ist ein ständiges Herantasten an ein inneres Bild von „Realität“, das den Zuschauer seinerseits anleitet, ebenso auf sein Fingerspitzengefühl zu vertrauen und sich einzulassen auf unerschlossene Räume und Klänge. Natürlich inszeniert Büchel für Nichtblinde und bietet ihnen entsprechend üppige visuelle Eindrücke, doch er tut dies letztlich auch, um damit auf den auditiven Reichtum des Lebens hinzuweisen: auf den tosenden Lärm in einem Bahnhofsgebäude ebenso wie auf das Rauschen des Windes, das Tropfen des Regens, die Stille, die das Vorbeigehen zweier Menschen hinterlässt, die sich mit aller Macht suchen – und finden. Wie in seinem Erstlingswerk, dem ungleich bescheidener ausgestatteten und noch weit weniger publikumswirksamen Schwarz-Weiß-Film „4 Geschichten über 5 Tote“ (fd 33 093), thematisiert Büchel auch hier die Grenzen – und Chancen – der Selbstbestimmung angesichts körperlicher Versehrtheit sowie des Todes; wobei er im Kern nichts von seiner „Aufmüpfigkeit“ verloren hat, mit der er Tabuthemen entkrampft und zu Mut und utopischer Daseinsfreude herausfordert. Mit seinen beiden Schauspielern Fritzi Haberlandt und Hilmir Snaer Gudnason fand er außerdem ein nahezu ideales „Traumpaar“ für dieses Konzept, das die Zerbrechlichkeit wie auch die Schönheit eines im wahren Sinn des Wortes ertasteten Lebenstraums leidenschaftlich und höchst sinnlich einfängt.

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