Le Chiavi di Casa - Die Hausschlüssel

- | Italien/Frankreich/Deutschland 2004 | 110 Minuten

Regie: Gianni Amelio

Ein junger Mann lernt bei einer Reise seinen behinderten Teenager-Sohn kennen, von dem er bisher nichts wissen wollte. Der Junge muss sich in Berlin einer Behandlung unterziehen, bei der ihm der Kontakt zum leiblichen Vater helfen soll. Im Lauf der Zeit kommen sich die beiden näher, auch wenn der Vater zwischen erwachenden Beschützerinstinkten und einer Distanzierung vom Leiden des Kindes schwankt und der Junge bestrebt ist, sich so viel Unabhängigkeit wie möglich zu erkämpfen. Ein nicht zuletzt dank der großartigen Darsteller und der ruhig beobachtenden Erzählhaltung beeindruckendes Road Movie über das Zusammenleben mit einem behinderten Kind. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LE CHIAVI DI CASA | LES CLEFS DE LA MAISON
Produktionsland
Italien/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Rai Cinema/ Achab Film/Arena Films/Pola Pandora Film Prod./ARTE France/BR/Bavaria/ZDF-arte
Regie
Gianni Amelio
Buch
Gianni Amelio · Sandro Petraglia · Stefano Rulli
Kamera
Luca Bigazzi
Musik
Franco Piersanti
Schnitt
Simona Paggi
Darsteller
Kim Rossi Stuart (Gianni) · Charlotte Rampling (Nicole) · Andrea Rossi (Paolo) · Alla Faerovich (Nadine) · Pierfrancesco Favino (Alberto)
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
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Diskussion
Der Titel von Gianni Amelios „Le Chiavi di Casa – Die Hausschlüssel“ bezieht sich auf einen Gegenstand, der im Film praktisch keine Rolle spielt, der aber von hohem Symbolwert für eine der Hauptfiguren ist: Paolo will von seinem Vater Gianni wissen, ob er eigene Hausschlüssel bekäme, wenn er bei ihm einziehen würde. Dieses Detail ist für den Teenager wichtig: Paolo ist Spastiker und wird rund um die Uhr betreut; die allmähliche Ablösung von den Eltern und der Aufbruch in die Selbständigkeit, die andere Jugendliche in seinem Alter erleben, sind für ihn alles andere als selbstverständlich. Die eigenen Hausschlüssel, mit denen man kommen und gehen kann, wann man will, erscheinen ihm als Symbol jener Unabhängigkeit, die ihm verwehrt ist – aufgrund seiner Behinderung, aber auch aufgrund übertriebener Fürsorge. Der Film erzählt von einer Reise, die Paolo und Gianni gemeinsam unternehmen, zunächst von Italien nach Berlin, dann bis nach Norwegen. Obwohl Paolo bereits 15 Jahre alt ist, lernen sich Vater und Sohn gerade erst kennen: Paolo wuchs bei Verwandten auf, denn seine Mutter starb bei seiner Geburt; der traumatisierte Vater sah sich außer Stande, sein behindertes Kind aufzuziehen. Als Paolo ein Klinikaufenthalt in Berlin bevorsteht, meinen Ärzte und Pflegeeltern jedoch, der Kontakt mit dem leiblichen Vater könne dem Patienten helfen. Gianni, der mittlerweile wieder eine Partnerin gefunden und eine Familie gegründet hat, lässt sich darauf ein, seinen Sohn zu begleiten. Für beide wird die gemeinsame Reise zur Chance, die Entfremdung zu überwinden. Inspiriert wurde das von Gianni Amelio, Sandro Petraglia und Stefano Rulli verfasste Drehbuch durch den autobiografischen Roman „Zwei Leben“ von Guiseppe Pontiggia, der allerdings weniger die Handlung, sondern mehr die Thematisierung und den Umgang mit der Behinderung beeinflusst hat. Von der Struktur her ist Amelios neuer Film ähnlich wie seine früheren Werke „Gestohlene Kinder“ (fd 29 905) oder „Lamerica“ (fd 31 247) ein Road Movie, wobei die Reise diesmal jedoch nur einen losen dramaturgischen Rahmen abgibt. Wie in „Gestohlene Kinder“ wird auch hier der Erwachsene mit einem vom Schicksal gebeutelten Kind konfrontiert und schwankt zwischen dem Wunsch, das Leid dieses Kindes auf Distanz zu halten und erwachenden Beschützerinstinkten. Und erneut muss auch hier der Erwachsene, nachdem er das Kind gerade lieben gelernt hat, einsehen, dass er für seinen Schützling nicht alles regeln kann. Wichtig wird für Gianni hierbei die Begegnung mit Nicole, die selbst Mutter einer schwerstbehinderten Tochter ist. Die ältere Frau hilft ihm, mit seiner neuen Verantwortung zurecht zu kommen, und leiht ihm ein offenes Ohr, um sich endlich die Traumata, die mit Paolos Geburt verbunden sind, von der Seele zu reden. Sie führt ihm aber auch die Unsicherheiten und die sehr ambivalenten Gefühle vor Augen, die ihm als Vater eines behinderten Kindes bevorstehen: Es ist eben nicht damit getan, das „Schicksal“, also das behinderte Kind, einmal zu akzeptieren; das Zusammenleben mit Menschen wie Paolo oder Nicoles Tochter stellt ständig neue Herausforderungen; die nicht leichter werden, wenn das Kind älter wird. Charlotte Rampling schafft es mit ihrem herben Gesicht, ein ganzes Spektrum widersprüchlicher Emotionen zu vermitteln: eine tiefe Müdigkeit, gleichzeitig aber auch eine scharfe Aufmerksamkeit für ihre Mitmenschen, Zärtlichkeit, aber auch Härte, Leiden und Überdruss und eine warmherzige Ruhe. Und Regisseur Amelio ist einmal mehr klug genug, die Kamera einfach auf Dingen wie diesem Gesicht ruhen zu lassen, ohne Hektik zu beobachten und die Poesie der Gesten, der Begegnungen und unprätentiösen Situationen wirken zu lassen. Sein Film ist damit nicht zuletzt wieder ein großartiger Schauspieler-Film: Rampling, aber auch Kim Rossi Stuart als Gianni und der tretraplegisch behinderte Darsteller Andrea Rossi ziehen den Zuschauer von Anfang an in die Handlung hinein, die unsentimental das Leben mit der Behinderung erkundet. Die Lebendigkeit und Überzeugungskraft der Figuren lassen die dramaturgischen Schwächen, die das sehr lose Handlungsgerüst aufweist, vergessen.
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