Stellet Licht

- | Mexiko/Frankreich/Niederlande/Deutschland 2007 | 136 Minuten

Regie: Carlos Reygadas

Ein gestandener Familienvater und gottesfürchtiger Mennonit verliebt sich in eine andere Frau und bricht mit ihr die Ehe, was den Tod der eigenen Frau zur Folge hat. Als sich die Geliebte über den Sarg beugt und die Tote küsst, erwacht diese zu neuem Leben. Die beiden Frauen versöhnen sich, und der Mann erwacht aus seiner leidenschaftlichen Unvernunft. Gleichnishafte Geschichte als kontemplative Filmerzählung von hohem ästhetischen Reiz, die Momente einer enthobenen Zeit schafft. Ein außergewöhnlicher Glücksfall fürs Kino. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
STELLET LICHT
Produktionsland
Mexiko/Frankreich/Niederlande/Deutschland
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Mantarraya Prod./No Dream Cinema/Bac Films/arte/Estudios Churubusco Azteca/Foprocine/IMCINE/Motel Films/Ticoman/World Cinema Fund/Nederlands Fond voor de Film
Regie
Carlos Reygadas
Buch
Carlos Reygadas
Kamera
Alexis Zabe
Schnitt
Natalia López
Darsteller
Cornelio Wall (Johan) · Miriam Toews (Esther) · Maria Pankratz (Marianne) · Peter Wall (Vater) · Elizabeth Fehr (Mutter)
Länge
136 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
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Diskussion
Mit einer überdeutlich langsamen Kamerafahrt führt der mexikanische Regisseur Carlos Reygadas sein Leitmotiv ein: den langsamen Anbruch des Tages in einem stillen Licht, das von einer unglaublichen Vielfalt von Schwarz über Blau bis zu einer goldgelben Farbpalette reicht. Das Licht erscheint hier transparent und physisch zugleich, ein Effekt der Farbemulsion, der im Zeitalter der Digitalkamera wie aus einer anderen Welt zu stammen scheint. Hier entfaltet sich eine subtropische Landschaft, die sich im Filmbild mit Energie auflädt und den Blick fesselt. Reygadas ist ein genialer Künstler der visuellen Verdichtung, ein Poet der Landschaftsbilder und der Kontemplation. Wer hätte gedacht, dass nach dem hermetischen „Japón“ (fd 35971) und der provokativen Gleichsetzung von sexueller und religiöser Ekstase in „Batalla en el cielo“ (fd 37713) der Weg in ein stilles Drama führt? Die Bilder erinnern an die metaphysische Aufladung in den Filmen von Terrence Malick; die filmische Zeitkonstruktion lehnt sich an Tarkowskijs Konzept der „versiegelten Zeit“ an. Und die Zeichnung der zurückhaltenden, nördlich temperierten Charaktere erinnert an skandinavische Filme. Es geht um eine Dreiecksbeziehung im Milieu der Mennoniten und Wiedertäufer: Johan ist ein gestandener Familienvater mit einem halben Dutzend Kinder, der sich gemeinsam mit seiner Frau Esther und seinem Nachwuchs am Morgentisch andächtig versammelt. Doch das Familien-Idyll täuscht. Johan hat sich in Marianne verliebt, eine Frau aus der bäuerlichen Gemeinschaft. Es ist eine verbotene Liebe, die jedoch für alle Beteiligten umgehend sichtbar wird. Für die Ehefrau Esther, die hofft, dass Johan das moralisch-soziale Gefüge respektiert; für den Vater von Johan, der als Pfarrer wirkt und seinen Sohn in dieser schwierigen Gefühlslage berät; für die Arbeitskollegen, die den Ausbruch Johans aus den Konventionen des Alltags sofort bemerken. Obwohl sich Johan seiner Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft und seiner Familie bewusst ist, kehrt er immer wieder zu seiner geliebten Marianne zurück. Diese Situation ist für Esther unerträglich. Sie stirbt den unspektakulären Tod der verzweifelten Ehefrau. Doch zum Zeitpunkt der Aufbahrung des Leichnams im Haus der Familie geschieht Seltsames. Marianne kommt ins Haus und wagt sich in den weißen Raum, in dem der Sarg aufgebahrt ist. In einem Moment des magischen Realismus wird Esther wieder auferweckt und kehrt zu den Lebenden zurück. Eine Versöhnung zwischen den beiden Frauen ist möglich, und Johan kann in seine Rolle als Familienvater zurückkehren. Wie aus einem Traum erwacht er aus dem Schlaf der leidenschaftlichen Unvernunft. Die Standuhr im Zimmer beginnt wieder zu ticken, und der Alltag nimmt seinen Lauf. Die Sonne geht unter, in einem stillen Licht. Die Geschichte lässt sich als Konflikt zwischen Verantwortung und Leidenschaft lesen. Ein Familienvater bricht aus seinem engen Umfeld aus und erlebt nochmals die Kraft der physischen Liebe, die ihn in eine schwerwiegende moralische Unruhe hineinführt. Der Preis für dieses Aufflackern der Leidenschaft ist der Tod der Ehefrau. Doch gibt es gestalterische Signale, die eine zweite Lesart andeuten: Die Zeit steht bereits in der Exposition still, und die gezeigte Handlung könnte ein innerer Konflikt der Hauptfigur Johan sein. Seine Frau Esther stirbt metaphorisch und wird von der Geliebten wieder auferweckt. Das Stilmittel des magischen Realismus entrückt dieses Ereignis aus der Normalität des Alltags. Die starke Subjektivierung des Blicks zeigt sich in der freien Abfolge von Jahreszeiten, in der verständnisvollen Reaktion aller Beteiligten auf den Ehebruch und nicht zuletzt in der Situierung im Umfeld der mexikanischen Mennoniten. Das Milieu der Mennoniten und Wiedertäufer verfremdet die Erzählung erheblich. Das offensichtlichste Merkmal ist dabei der gesprochene Dialekt des „Plautdietsch“, das gar nicht in die mexikanische Landschaft passen will. Zudem sticht auf Anhieb die antiquierte Kleidung und die Abwesenheit von elektronischen Geräten ins Auge. Es handelt sich um eine ursprünglich aus der Schweiz eingewanderte religiöse Siedlungskolonie, die sich im 16. Jahrhundert von der Reformation abspaltete und ihren Lebenswandel aus einer strengen religiösen Überzeugung bezieht. Ihre Rituale und Glaubenssätze bleiben im Hintergrund, sie sind lediglich der Kontext für eine universelle Geschichte. Und doch ist die Fremdheit dieser religiösen Gemeinschaft der entscheidende Punkt für die kontemplative Bewegung: ein Entrücktsein der Sinne, der Lebenswelt und des Traums. Wie bereits in seinen früheren Filmen verbindet der Regisseur eine quasidokumentarische Lebenswelt aus Laiendarstellern und originalen Drehorten mit einem formalen, artifiziellen Stil. „Stellet Licht“ bekommt durch diese künstlerische Motivation einen ätherischen Glanz, einen Moment der enthobenen Zeit, wie er zuletzt in Philip Grönings „Die große Stille“ (fd 37344) erlebbar war – ein außergewöhnlicher Glücksmoment des Kinos.
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