Drama | Deutschland 2008 | 99 Minuten

Regie: Andreas Dresen

Eine Frau, die auf die 70 zugeht, trennt sich nach Jahrzehnten von ihrem Ehemann, mit dem sie in einer zwar liebevollen, aber festgefahrenen Beziehung ein bescheidenes Rentnerdasein führte, um mit einem anderen Mann spätes Liebesglück und noch einmal sexuelle Erfüllung zu erfahren. Ein ebenso radikales wie ergreifendes Meisterwerk mit vorzüglichen Darstellern, die das Tabuthema "Sex im Alter" mit großer Natürlichkeit, ohne Scheu und Hemmungen angehen. Vor allem aber beeindrucken die stillen, intimen Momente, die aufrichtigen Dialoge, die aus der jeweiligen Situation heraus improvisiert wurden, sowie der zurückhaltend dosierte Humor. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Rommel Film/RBB/ARTE
Regie
Andreas Dresen
Buch
Andreas Dresen · Cooky Ziesche · Laila Stieler · Jörg Hauschild
Kamera
Michael Hammon
Schnitt
Jörg Hauschild
Darsteller
Ursula Werner (Inge) · Horst Rehberg (Werner) · Horst Westphal (Karl) · Steffi Kühnert (Petra)
Länge
99 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Liebesfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
In einer Zeit, die so gut wie keine Sextabus mehr kennt, gibt es immer noch mit Scham besetzte Grenzzonen: etwa wenn eine Frau jenseits der Sechzig ihre sexuellen Bedürfnisse auslebt. Höchstens in einer Vormittagstalkshow ließe sich das dem Jugendkult trotzende und deshalb mit Redeverbot belegte Thema platzieren. Vom lärmenden Spektakel ist Andreas Dresens in Cannes umjubelte Altersromanze „Wolke 9“ trotz expliziter Sexszenen aber so weit wie nur irgend möglich entfernt. Ähnlich wie in Patrice Chéreaus „Intimacy“ (fd 34 894) zeigt der Film in der Exposition die körperliche Nähe der sich auf dem Wohnzimmerboden wälzenden Körper als befreiendes Ventil, das nicht vieler Worte bedarf. Nach dem kurzen Geschlechtsakt verschwindet die Frau, bevor der Mann von der Toilette zurückkommt. Als er später die Intimität über den Sex hinaus ausweiten möchte, gibt sie trotz anfänglicher Skrupel nach. Die Abwechslung ist ihr mehr als willkommen. Es könnte die letzte sein. Unerhört und unerwartet ist der Einbruch unverhüllter Leidenschaft im Leben von Inge, die seit 30 Jahren mit Werner in einer so liebevollen wie festgefahrenen Ehe am Prenzlauer Berg lebt und ein bescheidenes Rentnerdasein zwischen Frauenchor und den immer gleichen Fernsehabenden führt. Sie bessert ihre Rente als Änderungsschneiderin auf. Als sie sich in einen ihrer Kunden verliebt, den 76-jährigen Karl, gerät ihr gleichförmiges Leben aus dem Tritt. Inge verhält sich wie ein Teenager, genießt die Treffen mit dem humorvollen und fürsorglichen Rentner und leidet zugleich unter den Schuldgefühlen, ihren Mann in Unkenntnis ihrer Glücksgefühle zu lassen. Trotz der Ratschläge der erstaunten Tochter, Werner zu belügen und die Affäre heimlich auszukosten, bricht sie ihr Schweigen — und erntet Entrüstung, Unverständnis und Vorwürfe. Werners Anfeindungen begegnet sie zunächst mit Hilflosigkeit und Tränen, dann mit gesundem Egoismus, wenn sie den Entschluss fasst, sich zu trennen und in die Wohnung des Liebhabers zu ziehen. So kulminiert die anfänglich berauschende Liebelei in einer schwerwiegenden Entscheidung, die einen der Eheleute das Leben kostet. Wie Andreas Dresen diesen Konflikt einer klassischen Ménage à trois ohne Rücksicht auf seit Jahrzehnten eingespielte Konventionen filmt, gehört zum Zärtlichsten und Mutigsten, das der deutsche Film seit langem zu bieten hat. Es dauert einige Zeit, bis man sich an diese auf der Leinwand sonderbare Spezies gewöhnt, bis man zu akzeptieren beginnt, dass es diese Alten sind, mit denen man die späten Liebeswirrungen mitfühlen soll. Intensiv und zugleich lakonisch erzählt, stellt die Kamera fast indiskret die vom Leben gezeichneten Gesichter von Dresens unscheinbaren Helden in den Mittelpunkt, fängt jeden Altersfleck und jede noch so verschüttete Gefühlsregung ein, die sie zum Strahlen bringt und trotz Falten und schlaffer Haut mit einer unwiderstehlich jugendlichen Aura umgibt. Dazu passt auch die gerade im Frühsommer aufblühende Natur, die sich in Blütenstaubwirbeln, rot schimmernden Blumenfeldern und Gewittern manifestiert. Es sind so alltägliche wie ungewohnte Bilder von einer Liebe im Alter, die gesellschaftliche Sprengkraft in sich bergen, weil sie auf jenes verlegene Wegblenden verzichten, hinter dem sich sonst der Wille zur Ausgrenzung und die Angst vor dem Tod verbergen. Dresen nähert sich seinen ohne Eingriffe gealterten, wunderbaren Darstellern mit großer Natürlichkeit, mit der für ihn typischen Wirklichkeitsnähe, die er in „Wolke 9“ ohne Kompromisse und mit zurückhaltend dosiertem Humor zur Vollendung bringt. Gedreht in einem kleinen Team und nur mit einem Drehbuchgerüst ohne ausformulierte Dialoge, beeindruckt der gänzlich auf Musik verzichtende, kleine große Film durch die vielen stillen Momente, in denen die vergehende Zeit keinen Raum mehr fürs Zögern lässt, in denen das Leben in vollen Zügen mit allen Konsequenzen gelebt werden will. Ein ebenso radikales wie in seiner Uneitelkeit ergreifendes Meisterwerk.
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