Drama | Frankreich 2017 | 94 Minuten

Regie: Xavier Legrand

Ein geschiedener Vater erstreitet vor dem Familiengericht das Recht, seinen elfjährigen Sohn jedes zweite Wochenende sehen zu dürfen. Doch aufgrund der Gewalttätigkeit des Mannes ist der Junge so sehr verschreckt, dass die Wochenenden für ihn zur Tortur werden. Noch schlimmer kommt es, weil der Vater seine geschiedene Frau noch immer liebt und sie zurückhaben will – notfalls mit Waffengewalt. Eine spannende und beklemmende Mischung aus Drama und Thriller, die zunächst fast dokumentarisch die Verhandlung vor dem Familiengericht zeigt, um dann die erschreckenden Folgen des Urteils zu beschreiben. Der beeindruckend gespielte Film ist schonungslos in seiner Darstellung psychischer wie physischer Gewalt, enthält aber durchaus Momente der Hoffnung. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
JUSQU'À LA GARDE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
K.G. Prod./France 3 Cinéma
Regie
Xavier Legrand
Buch
Xavier Legrand
Kamera
Nathalie Durand
Schnitt
Yorgos Lamprinos
Darsteller
Denis Ménochet (Antoine Besson) · Léa Drucker (Miriam Besson) · Thomas Gioria (Julien Besson) · Mathilde Auneveux (Joséphine Besson) · Mathieu Saikaly (Samuel)
Länge
94 Minuten
Kinostart
23.08.2018
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Universum (16:9, 2.35:1, DD5.1 frz./dt.)
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Spannende und beklemmende Mischung aus Drama und Thriller, die mit beeindruckenden Schauspielern die Folgen eines Urteils vor einem Familiengericht zeigt.

Diskussion
Gerichtsdramen bewegen sich, den Genrekonventionen folgend, langsam auf ihren Höhepunkt, das Urteil, zu. Zeugen sagen aus, Detektive forschen nach, Anwälte plädieren, Richter rufen zur Ordnung, eine Jury zieht sich zurück – bis sich am Schluss mit einer Entscheidung über den Angeklagten die Spannung löst. Im Filmdebüt von Xavier Legrand, 2017 bei den Filmfestspielen von Venedig mit dem Regiepreis ausgezeichnet, ist das anders. Eine Familienrichterin verkündet gleich zu Beginn ein Urteil. Und dann müssen die Betroffenen damit leben, mit ebenso dramatischen wie beklemmenden Folgen. In der Eröffnungsszene kämpft Antoine Besson mit seiner Anwältin um das Besuchsrecht für seinen elfjährigen Sohn Julien. Seine Ex-Frau Miriam wehrt sich heftig gegen die Ansprüche und berichtet von Gewaltausbrüchen gegen sie und ihre bereits fast volljährige Tochter Joséphine. Distanziert, fast schon dokumentarisch spielt Legrand diese Szene in voller Länge aus. Die Kamera blickt von Antoine zu Miriam und wieder zurück, sie ergreift keine Partei und enthält sich jeder Wertung, doch die Entzweiung ist deutlich spürbar. Zwischendurch fängt sie die müde wirkende Familienrichterin ein, die nachhakt, immer wieder unsicher in die Akten schaut und aufgrund dessen, was sie erfährt, nur ein Urteil fällen kann: Julien muss jedes zweite Wochenende bei seinem Vater verbringen. Eine spannende Ambivalenz ist in diesem Anfang verborgen, die auch beim Zuschauer Zweifel auslöst: Ist Antoine wirklich so gewalttätig, wie Miriam ihn beschreibt? Stimmt seine Anschuldigung, dass seine Ex-Frau die Kinder gegen ihn ausspielt? Wie ist eine Verletzung Joséphines zu erklären, die Miriams Anwalt als Gegenargument ins Feld führt? Nun beginnt die eigentliche Handlung, die gemeinsamen Wochenenden mit Antoine werden für Julien zur Tortur. Bloß nicht den Vater provozieren, bloß nicht mit ihm streiten, bloß keinen Verdacht erregen. Denn Antoine ist nicht der fürsorgliche Vater, als der er sich ausgibt. Er manipuliert den Jungen und entlockt ihm den neuen Wohnort der Mutter. Denn: Er will Miriam zurück. Notfalls mit Waffengewalt. Eltern lassen sich scheiden, die Familie bricht auseinander, die Kinder sind die Leidtragenden. Xavier Legrand macht die Zwangsläufigkeit dieser Ursachenkette nüchtern deutlich. Dabei spart der Regisseur die Vorgeschichte aus – Kennenlernen, Verlieben, Ehealltag und Entfremdung haben Mann und Frau lange hinter sich; was wirklich an Unfassbarem zwischen ihnen geschehen sein muss, erfährt der Zuschauer nicht. Auch soziale und politische Verhältnisse in Frankreich, vielleicht ein Versagen der zuständigen Behörden, spielen keine Rolle. Die einzelnen Charaktere werden nur über ihr Verhalten vorgestellt, über den Umgang mit dem von außen gefällten Urteil, über ihre Körpersprache. Vor allem der junge Thomas Gioria zeigt mit ausdrucksvollem Gesicht, das manchmal die ganze Leinwand füllt, seine Verachtung für den gewalttätigen Vater, sein verspannter, abgewandter Körper zeugt von Resignation und Hilflosigkeit. Wenn er ängstlich neben Antoine im Auto sitzt, wirkt er wie ein Gefangener. Denis Ménochet beherrscht hingegen als Vater allein schon durch seine Körperfülle das Bild, ständig scheint es in ihm zu brodeln, auch wenn er äußerlich ruhig wirkt. Er leidet unter der Scheidung. Er will das Richtige und tut das Falsche, vor allem mit den falschen Mitteln. Das macht ihm zu einem vielschichtigen Charakter. Stets könnte von ihm Gefahr ausgehen: Irgendwann wird der angestaute Frust aus ihm herausbrechen. Dabei funktioniert der Film auch als spannungsgeladener Thriller, etwa, wenn der wütende Vater und der eingeschüchterte Sohn zur neuen Adresse der Mutter fahren, die sie ihm verschwiegen hatte, und man nicht weiß, was passieren wird. Das Finale des Films, durch die furios „Proud Mary“-singende Joséphine in einer parallel dazwischen geschnittenen Szene kontrastiert, ist dann ebenso erschreckend wie ergreifend. Und doch entlässt Legrand den Zuschauer mit einem Bild der Hoffnung aus dem Kino.
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