Science-Fiction | Ungarn/Deutschland/Frankreich 2017 | 129 Minuten

Regie: Kornél Mundruczó

Beim Grenzübertritt von Serbien nach Ungarn wird ein syrischer Flüchtling von einem Polizisten erschossen. Doch anstatt zu sterben, entwickelt der junge Mann übersinnliche Fähigkeiten und beginnt zu schweben. Als ein zwielichtiger Arzt die Levitationen für seine selbstsüchtigen Zwecke instrumentalisiert und sich in der U-Bahn in Budapest überdies ein Anschlag ereignet, entwickelt sich eine rasante Jagd durch die dystopisch gezeichnete Stadt. Der Film umkreist mit fantastischen und religiösen Motiven sowie vielen Anleihen aus dem Science-Fiction-, Superhelden- und Actionkino die aktuelle politische Gegenwart in Ungarn und Europa. Auf Dauer verliert sich die wenig durchdachte Erzählung über einen Geflüchteten als Engel jedoch in den spektakulären Schaueffekten. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
JUPITER HOLDJA
Produktionsland
Ungarn/Deutschland/Frankreich
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
KNM/Match Factory Prod./Proton Cinema/Pyramide Films/ZDF/arte
Regie
Kornél Mundruczó
Buch
Kornél Mundruczó · Kata Wéber
Kamera
Marcell Rév
Musik
Marcell Rév
Schnitt
Dávid Jancsó
Darsteller
Merab Ninidze (Gabor Stern) · Zsombor Jéger (Aryan Dashni) · György Cserhalmi (László) · Mónika Balsai (Vera) · Farid Larbi (Bärtiger Syrer)
Länge
129 Minuten
Kinostart
22.11.2018
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Science-Fiction
Externe Links
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Beim Grenzübertritt nach Ungarn wird ein syrischer Flüchtling von einem Polizisten erschossen. Doch anstatt zu sterben, entwickelt der junge Mann übersinnliche Fähigkeiten. Drama, das mit fantastischen und religiösen Motiven sowie vielen Anleihen aus dem Science-Fiction-, Superhelden- und Actionkino die aktuelle politische Gegenwart in Ungarn umkreist.

Diskussion

Das Kino, das von Flucht und Migration erzählt, hat mehr als andere Darstellungsformen mit repräsentationspolitischen Problemen zu kämpfen. Denn wie lässt sich überhaupt ein Bild finden für die durch Kriege und wirtschaftliche Not ausgelösten Bewegungen von Menschen über Meere, Flüsse, Straßen, Grenzen hinweg, zumal wenn man aus privilegierter Position spricht? Und wie lassen sich den stereotyp reproduzierten Nachrichtenbildern anonymer Massen – in den Flüchtlingslagern, auf den herumirrenden Schiffen und Booten, die nahezu kein Staat aufzunehmen bereit ist – andere Bilder, andere Erzählungen beiseite- oder entgegenstellen? Der ungarische Filmemacher Kornél Mundruczó beantwortet diese Fragen entschieden gegen den auf diesem Feld weit verbreiteten Wiedergabe-Realismus, indem er in „Jupiter’s Moon“ einiges an Fantastik und religiöser Symbolik auffährt.

„Jupiter’s Moon“ trägt die kosmologische Perspektive bereits im Titel, verweist aber gleichzeitig auf die Gegenwart. Eine einleitende Schrifttafel erklärt, dass einer der insgesamt 67 Jupiter-Monde Europa heißt. Die Zerfallserscheinungen dieser Idee – der eines vereinten Europa –, die sich etwa in der rassistischen Migrationspolitik Ungarns manifestieren, sind in Mundruczós Erzählung in ein vages Futurum projiziert. „Jupiter’s Moon“ ist zwar wiedererkennbar in der krisengeschüttelten Gegenwart Europas angesiedelt, trägt aber dennoch Züge einer nicht näher bezeichneten Zukunft. Zumindest ist das politische Klima dahingehend verschärft, dass die Polizei an der Grenze ohne Zögern auf Geflüchtete schießt. Was von rechten Kräften in und außerhalb Europas ja tatsächlich ernsthaft diskutiert wird. So weit, so aktuell.

Das Realismusprinzip weicht dem Fantasy-Kino

Der junge Syrier Aryan Dashni ist eines dieser Opfer. Beim nächtlichen Grenzübertritt von Serbien nach Ungarn wird er angeschossen und schwer verwundet, um kurz darauf übersinnliche Kräfte zu entwickeln. Während sich der Film bis zu diesem Zeitpunkt geradezu mustergültig ans tradierte Realismusprinzip gehalten hat – aufgeregte Handkamera, Nähe zu Körpern, statt Übersicht ein Eingeschlossensein in den Erfahrungsraum der Hauptfigur –, orientiert er sich von da an mit ebensolchem Eifer an einem von CGI-Effekten gepushten „Fantasy-Kino“. Aryans Levitation sieht jedenfalls spektakulär aus.

Zunächst formt sich sein Blut zu schönen Kügelchen, die sich wie Luftblasen emporheben und denen schon bald sein ganzer Körper folgt; dabei wechselt die Kamera in die „gottgleiche“ Vogelperspektive. „Schweben“ ist bei all dem noch untertrieben. Aryan dreht sich in extrem verlangsamten Salto-Bewegungen um die eigene Achse, die Arme in leicht rudernden Bewegungen, und das inmitten von atmosphärischen Nebelschwaden. Dann fängt auch noch die Kamera an sich zu drehen, bis alles nur noch ein einziges Schweben und Drehen und Kreisen ist.

In der Krankenstation des Flüchtlingslagers wiederholt sich dieses Wunder im Beisein des Arztes. Der Mediziner Stern wittert sogleich ein lukratives Geschäft, zumal er wegen eines Behandlungsfehlers mit tödlichem Ausgang einen Prozess am Hals hat; damit könnte er sich von seiner Schuld freikaufen. Gegenüber reichen Patienten spielt er sich fortan als eine Art Wunderheiler auf, Aryan fungiert dabei als sein Sidekick mit Superkräften, als lebender Beweis für die Kraft der Wunder. Aryan erhofft sich von der Zusammenarbeit mit dem Arzt neue Papiere und auch, seinen auf der Flucht verlorenen gegangenen Vater wiederzufinden. Nach einer Weile entspinnt sich auch zwischen Aryan und Stern eine Art Vater-Sohn-Beziehung – mit läuternden Effekten für den Mediziner.

Ein schräger Spagat zwischen Gegenwartsnähe und Wunder-Kino

Der kinetische Drive von „Jupiter’s Moon“ besitzt zunächst etwas Mitreißendes – Mundruczó flirtet nicht nur mit dem Superhelden-Genre, sondern adaptiert in den rasanten Verfolgungsjagden durch die dystopische Kulisse von Budapest auch die Bewegungsintensität des Actionkinos. Doch nach einer Weile wirken das aufgeregte Gehetze und die um immer neue Schaueffekte bemühten Levitationen vor allem selbstverliebt. Ziemlich schräg ist auch der Spagat zwischen Gegenwartsnähe und Wunder-Kino. „Ich tendiere eher dazu, von den ideologischen Geschichten der Gegenwart die Finger zu lassen“, schreibt der ungarische Regisseur zu seinem Film. Allerdings greift er dann ausgerechnet auf das kreischendste Angstszenario eines übererhitzten Migrationsdiskurses zurück, indem er einen Terroranschlag in die Erzählung einbaut, der von einem sich unter die Flüchtlinge mischenden Dschihadisten verübt wird.

Ohnehin bleibt die leicht kitschige Idee vom „Geflüchteten als Engel“ vage. Falls Mundruczó mit dieser Figur eine Gegenerzählung zu aktuellen politischen Szenarien im Sinn hatte, verliert sie sich in den dynamischen Effekten des Bewegungskinos – Aryan ist kein „Lazzaro“, der ja tatsächlich eine politische Utopie verkörpert. Am Ende hat man gar das Gefühl, dass der Körper des Flüchtenden nicht mehr als ein willkommenes Gefäß für eine unspezifische Engelfigur ist, die durch eine Abenteuergeschichte gejagt wird.

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