Coming-of-Age-Film | Österreich 2018 | 100 Minuten

Regie: Katharina Mückstein

Eine junge Österreicherin kurz vor dem Abitur verbringt ihre Zeit mit einer Motorradgang, obwohl sie sich von den Jungs nicht angezogen fühlt. Stattdessen spürt sie ein befremdliches Interesse für eine etwas ältere Frau, die im örtlichen Supermarkt jobbt. Auch in der Ehe ihrer Eltern laufen die Dinge auseinander, ohne dass dafür eine Sprache gefunden würde. Das stimmige Drama über das Erwachsenwerden in der Provinz lebt von der eindringlichen Hauptdarstellerin, die mit jeder Geste vielfältige Ambivalenzen erfahrbar macht. Das Hinterfragen stereotyper Geschlechterbilder wirkt allerdings etwas konstruiert und verharrt auch visuell auf bekanntem Terrain. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
L' ANIMALE
Produktionsland
Österreich
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Nikolaus Geyrhalter Filmprod./La Banda Film
Regie
Katharina Mückstein
Buch
Katharina Mückstein
Kamera
Michael Schindegger
Musik
B. Fleischmann
Schnitt
Natalie Schwager
Darsteller
Sophie Stockinger (Mati) · Kathrin Resetarits (Mutter) · Dominik Warta (Vater) · Julia Franz Richter (Carla) · Jack Hofer (Sebastian)
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Coming-of-Age-Film | Drama
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Diskussion

Stimmiges Drama übers Erwachsenwerden in der Provinz, in dem eine österreichische Abiturientin ihr Interesse für das weibliche Geschlecht entdeckt.

Das hörbare Durchdrehen von Motorradreifen während der Schwarzblende erzeugt Assoziationen, noch bevor das erste Bild zu sehen ist. Maskulinität, Freiheitsdrang und Kampfgeist kommen in den Sinn. Dass sich unter den Motocross-Fahrern in ihren gepanzerten Ausrüstungen ein junges Mädchen kurz vor dem Abitur verbirgt, erzielt einen gelungenen Überraschungseffekt – erinnert aber auch an den Beginn von Céline Sciammas „Girlhood“, wo sich unter den American-Football-Uniformen nach und nach eine Mädchenbande zu erkennen gibt.

Mit ihrem zweiten Film reiht sich die Regisseurin Katharina Mückstein, die Gender-Studies und Philosophie studiert hat, ganz bewusst in zeitgenössische queere Narrative ein, die sie auch filmisch immer wieder zitiert. Mati, eindringlich verkörpert von Sophie Stockinger, erfüllt nicht die gängigen Erwartungen an Geschlechterrollen; sie liegt irgendwo dazwischen. In der österreichischen Provinz ist es noch nicht selbstverständlich, dass sich das stämmige Mädchen nicht für Jungs interessiert, obwohl sie den ganzen Tag mit ihnen verbringt. Ihre Mutter drängt sie in ein knappes rosa Kleid für den Abschlussball, der beste Freund will mehr von ihr als nur ein Kumpel aus der Motorrad-Gang sein, in der sie als Halbstarke die Provinz-Diskotheken unsicher machen.

Tiefe Hilflosigkeit angesichts der eigenen Sexualität

Gemeinsam mit den Jungs lebt Mati in ihrer Bomberjacke die bebende Wut aus, die eigentlich eine tiefe Hilflosigkeit angesichts ihrer eigenen Sexualität ist, und schikaniert mit den anderen zusammen die genderkonformen, Minikleid tragenden Mädchen.

Doch auch bei ihren eigenen Eltern zeigen sich komplizierte Verleugnungszusammenhänge. Der Vater Paul (Dominik Warta) hat wenig Lust, das familiäre Eigenheim zu Ende zu renovieren, obwohl er als Architekt arbeitet. Auf dem Bau fühlt er sich erotisch von einem Kollegen angezogen, findet für das namenlose Begehren, das in ihm brodelt, aber ebenfalls keinen Ausdruck.

Bald wird deutlich, dass sich die Konflikte von Vater und Tochter auf ungewöhnliche Weise spiegeln. Mati muss sich entscheiden, ob sie die an sie delegierte Aufgabe, authentisch zu leben, annehmen – oder sich wie alle anderen in ihrer Abwehr einrichten will.

Drängende Fragen der Selbstfindung

Coming-of-Age-Dramen verzeichnen in den letzten Jahren eine immer größere Konjunktur, vielleicht auch, weil die Frage der Selbstfindung und Individuation auch intersektional eine größere Aufmerksamkeit erhält. Gesellschaftliche Sozialisationsprozesse streben nach Einheitlichkeit, aber wie sieht das Erwachsenwerden für lesbische, schwule oder Transgender-Jugendliche aus? Welche Rolle spielen Aspekte wie Herkunft und Klasse?

Mückstein versucht in „L’animale“ genau diese Spezifika herauszuarbeiten und stereotype Geschlechterbilder zu hinterfragen. Ihre großartige Hauptdarstellerin trägt den Film und macht mit jeder Geste die vielfältigen Ambivalenzen erfahrbar, denen sich Mati stellen muss. Dennoch wirkt die gesamte Konzeption des Drehbuchs zu konstruiert, um wirklich überraschende Momente zu bieten. So wird im Deutschunterricht das Goethe-Gedicht „Selige Sehnsucht“ besprochen, dessen Reime allzu offensichtlich einen exemplarischen Charakter haben. Die Inszenierung spielt auch Szenen voll aus, die als Andeutungen viel spannender gewesen wären. So bleibt wenig in der Schwebe, und die Konflikte lösen sich auf erwartbare Weise, was im merkwürdigen Kontrast zum titelgebenden wilden Tier steht, das im Film doch recht gezähmt erscheint.

Das Tier, das ich in mir trage…

Der italienische Schlager „L’animale“ von Franco Battiato wird in einer Schlüsselszene ganz wie in Paul Thomas Andersons „Magnolia“ zum einstimmigen Moment der Selbsterkenntnis. „Ma l’animale che mi porto dentro non mi fa vivere felice mai“ – das Tier, das ich in mir trage, lässt mich einfach nicht glücklich sein. Doch statt sich wie Sciamma in „Girlhood“ formal auf unwägbare Pfade zu begeben, bewegt sich Mückstein sehr pädagogisch und verharrt auch visuell auf bekanntem Terrain. Die pulsierenden Elektrobeats und die prägnante Typografie erinnert an Filmemacher wie Yann Gonzalez („Begegnungen nach Mitternacht“) oder Karim Aïnouz („Praia do Futuro“). Auch Alain Guiraudies „Der Fremde am See“ findet eine deutliche Referenz – eine Zitathaftigkeit, die im Film allerdings so stimmig umgesetzt wird, dass es dem Sehvergnügen keinen Abbruch tut.

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