Drama | Frankreich 2018 | 109 Minuten

Regie: Jean-Bernard Marlin

Ein 17-Jähriger aus einem heruntergekommenen Viertel in Marseille wird nach einer Jugendhaftstrafe von seiner Mutter fallengelassen. Auf der Straße macht er die Bekanntschaft einer gleichaltrigen Prostituierten, bei der er einzieht und deren Zuhälter er wird. Durch einen Konflikt mit alten Freunden gerät ihre zarte Beziehung zueinander jedoch in Gefahr. Einfühlsam und mit einprägsamer Bildsprache inszeniertes Regiedebüt, das Milieu und Figuren authentisch zeichnet, allerdings weniger an dem Sozialdrama als an der Liebesgeschichte interessiert ist. Das Vabanque-Spiel, harte Lebensrealität mit anrührender Romantik zusammenzubringen, glückt vor allem dank facettenreicher Laiendarsteller. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SHÉHÉRAZADE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Geko/Arte France Cinéma
Regie
Jean-Bernard Marlin
Buch
Jean-Bernard Marlin · Catherine Paillé
Kamera
Jonathan Ricquebourg
Musik
Jacob Stambach
Schnitt
Nicolas Desmaison
Darsteller
Dylan Robert (Zachary) · Kenza Fortas (Scheherazade) · Idir Azougli (Ryad) · Lisa Amedjout (Sabrina) · Kader Benchoudar (Mehdi)
Länge
109 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion

2018 mit drei "Césars" geehrt, als bestes Erstlingswerk und für die Nachwuchsdarsteller Kenza Fortas und Dylan Robert: Ein Drama um einen 17-jährigen Kleinganoven.

Stilvoller Abgang des kleinen Gangsters. Zachary hat sich seine Posen für die Entlassung aus dem Jugendgefängnis genau überlegt: Flachsen mit den Wachen, selbstsicheres Grinsen, Coolness von der blondgefärbten Haarsträhne bis zu den Turnschuhen. Dass ihn draußen allerdings nicht seine Mutter abholt, sondern nur die Sozialarbeiterin Souraya, bringt den Möchtegern-Banditen ziemlich aus dem Konzept. Seine Mutter hat nicht vor, ihn wieder bei sich aufzunehmen, und ist völlig einverstanden mit seiner Unterbringung in einem Heim. Als Zachary von dort bei erster Gelegenheit abhaut, erwartet ihn bei seinen gleichaltrigen Kumpels die nächste Enttäuschung. Seine Haftstrafe und der Verstoß gegen seine Bewährung machen ihn nicht zum Helden, sondern zum potenziellen Sicherheitsrisiko, der „Traumjob“ als Drogendealer ist perdu. Mit einem Mal steht die gesamte Zukunft auf den Straßen von Marseille in Frage, denn der Schulabbrecher Zachary hat keinen Plan B und aktuell nicht mal ein Bett zum Schlafen. Also doch zurück ins Heim, wie ihm seine Kumpel gehässig raten?

Der französische Regisseur Jean-Bernard Marlin präsentiert in seinem Spielfilmdebüt „Scheherazade“ einen Protagonisten, der zwar mit allen Wassern seines Milieus gewaschen ist und im Notfall mühelos in den Gassen des heruntergekommenen Viertels in Nord-Marseille untertauchen kann, bei aller Straßenschläue aber schon früh gescheitert scheint. „Ich bin stinksauer“, benennt Zachary mehrmals sein Grundgefühl, ohne viel dagegen zu unternehmen. Zur Chance für ihn wird erst die Begegnung mit der Titelfigur: So wie ihre literarische Namenspatin überlebt auch die 17-jährige Shéhérazade nur so lange, wie sie Männern zu Willen ist und so wenig Eigensinn wie möglich verrät.

Die Macho-Doppelmoral beginnt zu bröckeln

Als jugendlicher Prostituierter begegnet ihr Zachary zuerst mit demonstrativer Verachtung, bis beide ein Arrangement finden, dass seine Geld- und Wohnprobleme löst und ihr die Aussicht auf Schutz und Beistand bietet: Zachary zieht bei Shéhérazade ein, die sich eine Bruchbude mit einer transsexuellen „Kollegin“ teilt; wenn sie abends auf Freier wartet, steht er eine Ecke weiter, klärt das Finanzielle und verfolgt aus einigem Abstand und mit mehr Betroffenheit, als er sich eingesteht, wozu sich das Mädchen hingibt. Obwohl er bald auch für weitere Prostituierte den Zuhälter gibt, ist die Besonderheit seiner Beziehung mit Shéhérazade unübersehbar. Als alte Freunde verlangen, dass sie auch ihnen „gefällig“ sein soll, erfährt Zachary die heuchlerische Doppelmoral seiner Erklärung „Ich respektiere die Frauen, nur nicht die Huren“ schließlich selbst.

Gekonnt entlarven Marlin und seine Co-Drehbuchautorin Catherine Paillé die machistischen Sprüche der Jungen immer wieder als reaktionäre Impulse gegen eine Lebenswirklichkeit, in der längst Frauen den Ton angeben können: Sozialarbeiterinnen, Gefängniswärterinnen, Anwältinnen und Richterinnen gebieten (mit) über das Schicksal von Zachary und seinen Altersgenossen, die ihre Lage mit ihren „Straßenmanieren“ nur noch verschärfen. Die geringen Aussichten der jungen Einwohner des Viertels zwischen Armut, Kriminalität, Prostitution und allenfalls niederen legalen Tätigkeiten bekräftigen zwar den Eindruck eines unguten Systems, doch hat das Sozialdrama für Regisseur Marlin nicht erste Priorität. Wichtiger ist ihm die Liebesgeschichte, die sich hier absehbar, aber darum nicht weniger zart und anrührend zwischen Zachary und Shéhérazade entfaltet, die in ihrer Zweisamkeit jedes aufgesetzte Erwachsenenverhalten fallen lassen und unverhüllt ihre Jugend preisgeben. In Shéhérazades Fall, die allein in ihrem Bett noch wie ein Baby am Daumen lutscht, dringt gar eine zu abrupt beendete Kindheit wieder durch.

Romantik trifft auf brutale Kälte

Wie der Film in der Sphäre von Zuhältern und Huren Romantik mit brutaler Kälte und Gewalttätigkeit zusammenbringt, rückt „Scheherazade“ in die Nähe von Pier Paolo Pasolinis Accattone, ebenso wie die filmunerfahrenen, aber charismatischen und vielseitigen Laiendarsteller. Vor allem Dylan Robert und Kenza Fortas, beide für ihr Filmdebüt jeweils mit einem „César“ geehrt, vermögen die Widersprüchlichkeit im Verhalten der Hauptfiguren facettenreich zu zeigen: Raues, oft aggressives Auftreten nach außen hin, im Kern aber von einer Verletzlichkeit, die sich nicht überdecken lässt.

Ihre ausgearbeiteten Charakterdetails verhindern auch, dass sie zu bloßen Stellvertreterfiguren für eine gesellschaftskritische Deutung werden, womit Jean-Bernard Marlin einer Tendenz im aktuellen Banlieue-Drama folgt, die etwa auch Céline Sciamma mit Bande de filles und Houda Benyamina mit Divines befolgten. Zu diesen jeweils in einem trüben, menschenfeindlichen Paris spielenden Werken ist Marlins Marseille-Film eine sonnengetränkte, südfranzösische Variante, deren Handlung zwar manchmal etwas musterhaft erscheint, aber mit selbstsicherer Bildsprache Eigenständigkeit gewinnt: In den Nachtszenen durchschneiden die Strahlen der Laternen, Autolichter und Nachtclub-Beleuchtungen grell und hart die Filmbilder. Aus diesem bedrohlichen Rahmen gibt es für die Figuren kein unversehrtes Entkommen.

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