Tommaso und der Tanz der Geister

Drama | Italien/Großbritannien/USA 2019 | 117 Minuten

Regie: Abel Ferrara

Ein alternder Filmemacher lebt mit seiner deutlich jüngeren Frau und seiner Tochter in Rom. Er arbeitet an einem neuen Projekt, gibt Schauspielunterricht und besucht eine Selbsthilfegruppe für ehemalige Drogensüchtige. Doch das ruhige, gefestigte Leben entgleitet ihm, sodass er sich in gewalttätigen und sexuellen Tagträumen verliert. Der Film à clef über Schrecken und Freuden des Alterns formt Doku- und Spielfilm-Elemente zu einem kritischen Selbstporträt. Das düstere Drama kann und will seine Widersprüche nicht auflösen und bleibt in Form und Inhalt so zerrissen wie sein Protagonist. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
TOMMASO
Produktionsland
Italien/Großbritannien/USA
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Faliro House/Simila(r)/Vivo Film
Regie
Abel Ferrara
Buch
Abel Ferrara
Kamera
Peter Zeitlinger
Musik
Joe Delia
Schnitt
Fabio Nunziata
Darsteller
Willem Dafoe (Tommaso Buscetta) · Anna Ferrara (Dee Dee) · Cristina Chiriac (Nikki) · Stella Mastrantonio · Lorenzo Piazzoni (Student von Tommaso)
Länge
117 Minuten
Kinostart
13.02.2020
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Neue Visionen (16:9, 2.35:1, DD5.1 dt.)
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Schlüsselwerk des Filmemachers Abel Ferrara über einen alternden Regisseur, der in Rom mit Frau und Tochter lebt, im ruhigen Dasein aber keine Erfüllung findet.

Diskussion

Das ist dann wohl jener „Late Style“, wie ihn der Kritiker Edward Said in seinem letzten und unvollendeten Buch beschrieb: Ein Stil, der die angesammelten Widersprüche eines Lebens nicht auflöst, sondern sie hervorhebt und damit eine zerrissene Existenz gegen sich selbst wirft. „Tommaso“ ist die Geschichte eines ruhelosen Geistes. Inhaltlich, formal, durch und durch. In Deutschland wird der minimalistische Originaltitel um den Zusatz „…und der Tanz der Geister“ ergänzt, lässt also ein Gespenst viele andere zum Tanz bitten. Damit ist die Erfahrung des träumerischen Dramas sicher nicht falsch beschrieben. Tommaso ist ein Filmemacher, so wie Abel Ferrara, und lebt mittlerweile in Rom, wie Abel Ferrara. Ein ehemaliger Drogensüchtiger ist er auch. Aber nein, Ferrara steht nicht vor, sondern hinter der Kamera und lässt sich schauspielerisch von Willem Dafoe vertreten. 

Er ist das bedeutsamste Element dieser realfiktiven Welt, das man ersetzt hat. Ferraras Ehefrau Cristina Chiriac spielt Tommasos Ehefrau Nikki, ihre gemeinsame Tochter Anna heißt jetzt Deedee. Sie leben in einer geschmackvollen kleinen Wohnung, durch die sonst Ferrara spukt. Der ehemalige und doch ewige New Yorker arbeitet weiter an dem Projekt, das zuletzt in „Pasolini“ oder „Piazza Vittorio“ immer deutlicher wurde. Ob Spielfilm oder dokumentarische Arbeit, stets soll die dünne Wand zwischen diesen beiden Kategorien zum Einsturz gebracht werden.

Ein Kino des Flanierens, dessen Altersmilde indes nicht zu trauen ist

Der Film begleitet Tommaso durch den Alltag. Der Regisseur arbeitet an einem Filmprojekt, es geht um eine Waldhütte, einen Bären, und natürlich um die Liebe. Zur Recherche schaut er Videos auf YouTube, manchmal füllen sie die gesamte Leinwand. Er gibt Schauspielunterricht und besucht eine Selbsthilfegruppe. Er kocht mit seiner Frau und spielt mit seiner Tochter, er geht in den Park und kauft ein. Es ist ein Kino des Flanierens. Die Kamera wird sein Auge, und dieser Blick atmet so gierig die ewige Stadt ein, als würde er sie zum letzten Mal sehen.

Zuerst erscheint es wie ein Leben von Routine und Ritual, geordnet und gefestigt. Ein genügsames Gleiten und Beobachten. Doch mit der Zeit wird deutlich, dass man der Altersmilde nicht trauen kann. Es fängt bei den kleinen Dingen an: Tommaso lernt immer noch Italienisch, selbst im Seniorenalter muss er in sein Leben hineinwachsen. Die Kommunikation ist ihm ein ewiges, unerklärliches Rätsel. Die Gespräche zwischen Nikki und Tommaso sind knapp, immer ein wenig unsicher. Italienisch und Englisch werden wild durcheinandergeworfen, sie tasten nach den richtigen Worten, wie durch einen vertrauten, aber düsteren Hausflur. Immer wieder stoßen sie dabei an Barrieren, vielleicht durch das Unbehagen zwischen den Geschlechtern oder den massiven Altersunterschied.

Willem Dafoes Darstellung scheint quer durch die Lebensalter zu reisen

Tommaso wirkt unreif. Dafoes Darbietung scheint durch die Zeit zu reisen. Je nach Lichtstimmung und Gesichtsausdruck nimmt er jedes Alter zwischen 35 und 90 an. Wenn Tommaso mit seinen Schauspielschülern übt, dann überträgt sich ihre jugendliche Energie auf ihn. Ist er ein inspirierender Lehrer oder ein alter Vampir, der Lebenskraft aufsaugt? Blickt er müde in einen grauen Morgen, dann könnte er ebenso gut schon tot sein. Er ist einerseits eifersüchtig, andererseits scheint es ihn zu anderen Frauen hinzuziehen. Ob er seiner Sprachlehrerin Atemübungen zeigt oder eine Freundin nach Hause bringt – stets erwartet man, dass er jetzt zu weit geht.

Der Blick des Flaneurs will wohl immer mehr als schauen, er hat etwas Übergriffiges. Er gehört nicht mehr zu diesem blühenden Leben, zumindest nicht auf die Weise, die ihm vorschwebt. Das Alter verschont auch seinen Körper nicht, und so füllt er die selbstgewählte Rolle des starken Mannes und Patriarchen nur noch unzureichend. Yoga und Spaziergänge können den Verfall nur verlangsamen. Er reagiert mit Paranoia und Herrschsucht. Nikki will mit der Tochter die Metro nehmen, er ruft ihnen entsetzt ein Taxi. Diese Straßen, durch die er ungehindert zieht, sind für sie zu gefährlich. Nichts darf außerhalb seiner Kontrolle liegen.

Traumbilder drängen ins römische Stadtleben

Diese Existenz scheint auf tönernen Füßen zu stehen, erbaut aus den Scherben vieler gescheiterter Lebensentwürfe. Tommaso projiziert seine Ängste und Neurosen auf die Welt, mehr und mehr Traumbilder drängen in das unmittelbar eingefangene Stadtleben. Seine Lust gebiert Tagträume von jungen Frauen, die nackt mit ihm im Café stehen. Die Eifersucht zeigt ihm seine Frau mit anderen, natürlich jüngeren Männern. In einer längeren Sequenz verurteilen Fremde ihn, seine Vorstellungskraft erhebt ihn zum Märtyrer einer nie benannten Idee.

Die Form spiegelt die innere Zerrissenheit. Quasidokumentarische Aufnahmen wechseln sich mit symbolüberladenen Visionen ab. Werner Herzogs Kameramann Peter Zeitlinger trägt zu einer Ästhetik zwischen privatem Video-Tagebuch und Mumblecore bei. Gespräche und Situationen sind improvisiert, kaum eine Situation ist auf eine klare Pointe oder auch nur einen dramatischen Höhepunkt zugespitzt. Die schönen Bilder sind flüchtig, meist haben sie mit Licht zu tun: Römische Sonne am Tag, Laternen und Neon in der Nacht. Eine Designerlampe, die Nikkis und Tommasos Intimität erhellt, füllt einen Raum mit unsicheren Zickzack-Mustern.

Eine Sehnsucht nach dem lauten, unbeherrschbaren Leben

„Tommaso und der Tanz der Geister“ ist ein Film von einem alten Herren über einen alten Herren, also ein Altherrenfilm. Auf Ferrara lastet viel Geschichte. Er zählt zu der Riege von Autorenfilmern in einer späten Phase ihrer Karriere und ihres Lebens, durch die das Kino sich oft wie ein altes, fragiles Medium anfühlt. Von seiner jugendlichen Radikalität, vom „Driller Killer“, von „Ms. 45“ oder seinem pornographischen Debüt „9 Lives of a Wet Pussy“ bleibt eine Sehnsucht nach dem lauten, unbeherrschbaren Leben. Doch man verspürt auch ein Unbehagen mit dem eigenen Schaffen, mit konsumierbarer Gewalt und Sexualität, mit dem männlichen Blick. Ist ein Leben des Filmens ein Leben des Lernens? Wohl nie so sehr, wie man es sich wünscht.

Edward Said beschrieb den „Late Style“ bei Künstlern auch als Ausdruck des Gefühls, außerhalb von Zeit und Raum zu stehen; als Möglichkeit, das vom Leben Dargebotene abzulehnen. Der Grundton des Films ist melancholisch, wehmütig, fast jeder Blick zurück ist schmerzhaft und schön zugleich. Hat Tommaso aus seinen Fehlern gelernt oder sind die vollmundigen Reden über Empathie und Selbstfindung nur Fassaden? Ist die Selbstreflexion nicht auch eine Performance? Tommaso und Ferrara finden nur bittere, blutige Antworten. Die Szenen in der Selbsthilfegruppe geraten effektiv und rührend, weil Tommasos Geschichten nicht einfach den Schrecken der eigenen Sucht betonen, sondern immer wieder auch ein gewisser Stolz erkennbar ist. Das gilt auch für den Film. Es hat Spaß gemacht, viel zu oft. Bis ganz zuletzt.

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