Drama | Taiwan/Frankreich 2001 | 105 Minuten

Regie: Hou Hsiao-hsien

Eine junge Frau schlägt sich durch das pulsierende Nachtleben von Taipeh. Die unglückliche Beziehung zu einem eifersüchtigen Mann treibt sie in die Arme eines sanftmütigen Gangsters. In langen, beobachtenden Einstellungen erfasst der Liebesfilm im Übergang zum neuen Jahrtausend den Rhythmus eines neuen Lebens, das im Augenblick maximaler Beschleunigung in Stillstand und Taubheit verfällt. Die nächtliche Großstadt und die aufblitzenden Lichter lassen dabei im Zusammenspiel mit Voiceover ein Gefühl für eine Zeit entstehen, die immer schon Vergangenheit und Fragment ist. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
QIAN XI MAN BO
Produktionsland
Taiwan/Frankreich
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
3H Productions/Orly Films/Paradis Films/Sinomovie
Regie
Hou Hsiao-hsien
Buch
Chu T'ien-wen
Kamera
Mark Lee Ping-Bing
Musik
Yoshihiro Hanno · Huang Kai-yu · Giong Lim
Schnitt
Hsiao Ju-Kuan · Liao Ching-Sung
Darsteller
Shu Qi (Vicky) · Jack Kao (Jack) · Tuan Chun-hao (Hao-Hao) · Rio Peng (Dao) · Jun Takeuchi (Jun)
Länge
105 Minuten
Kinostart
21.09.2023
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Liebesfilm
Externe Links
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In pulsierenden Bildern gedrehter Liebesfilm von Hou Hsiao-Hsien, in dem eine junge Frau zu Beginn des neuen Jahrtausends die manische Eifersucht ihres Freundes nicht mehr aushält und Unterschlupf bei einem Gangster findet.

Diskussion

Das Kino von Hou Hsiao-Hsien entfaltet sich in sanften, graduellen Bewegungen. Es öffnet Räume und lässt Menschen, Ereignisse und Licht durch sie hindurchfließen. Die Signatur eines jeden Films des taiwanesischen Regisseurs strahlt aus Kerzen, Gasleuchten oder Glühbirnen. Der trügerische Goldglanz von „Die Blumen von Shanghai“ adelt die schummrigen „Blumenhäuser“ der Hafenstadt, bis elendiges Geschacher als Hofintrige erscheint. In „The Assassin“ schlagen Fackeln Kerben in blaue Nacht, können die titelgebende Meuchelmörderin aber nie aus den Schatten treiben. Hous frühe, ländliche Filme fluten ärmliche Hütten und Hochhausgerippe mit sanftem Tageslicht. Man ist ungeschützt, aber nah an den Dingen. Innen und außen sind kaum getrennt.

Er kommt, sie weicht zurück

Auch „Millennium Mambo“ aus dem Jahre 2001 beginnt mit flackernden Neonröhren, die die federnd-tanzenden Schritte einer jungen Frau erhellen. Unstetes, zittriges Licht, das immer zu viel oder zu wenig offenbart. Der Einstieg zeigt Liebes-, Traum- und Glücksbilder, die als Erinnerung durch jede folgende Einstellung pulsieren. Auf der Tonspur wummert der Elektrosound von Giong Lims „A Pure Person“.

Die Kamera von Mark Lee Ping-Bing folgt einer Figur, für die rein oder unschuldig die falschen Begriffe scheinen. Shu Qi spielt Vicky, die sich schon seit dem Teenageralter durch das Nachtleben von Taipeh schlägt. Irgendwann hat sie in einem Club Hao-hao (Tuan Chun-hao) getroffen, einen eifersüchtigen Dickschädel, den sie wohl oder übel liebt. Er behandelt sie schlecht und verbaut ihr die Zukunft. Vicky arbeitet widerwillig in einem Nachtclub. Beide sind arm, aber schön, wobei das eine das andere nie ganz ausgleichen kann. Als man ihnen zum ersten Mal begegnet, ist von ihrer Beziehung nur noch eine seltsame Choreografie übriggeblieben: Er kommt zu ihr, sie weicht zurück.

Eigentlich besteht der Film nur aus dieser ersten Szene mit der berauschten Vicky unter Neonlicht; sie überstrahlt bis zuletzt jede andere. Was nicht heißt, dass alles Nachfolgende überflüssig wäre, sondern lediglich, dass sich in dieser Momentaufnahme ein Leben verdichtet.

Wie von der Zeit geschliffen

Hou präsentiert eine Gegenwart, die immer schon Vergangenheit ist. Das Voiceover, das die Bilder von der ersten Szene an begleitet, stammt aus dem damals fernen Jahr 2011. „Millennium Mambo“ ist ein Film, der schon im Bewusstsein um das menschliche Vergessen gedreht wurde. Im Rückblick bleiben nach Kinobesuchen oft nur einzelne Bilder, Momente oder Bewegungen im Gedächtnis. Das Drama präsentiert sich so, als wäre es schon von der Zeit geschliffen worden. Lauter Augenblicke, die geblieben sind. Die Bruchstücke einer Beziehung, die (wie die Liebenden selbst) nicht mehr ganz zusammenpassen wollen.

„Millennium Mambo“ ist auch ein Film der Latenz. Eine asynchrone, ungleichzeitige Erzählung. Oft wird aus dem Off etwas beschrieben, das dann erst einige Szenen später gezeigt wird. Vicky erinnert sich an eine Rolex, die Hao-hao seinem Vater gestohlen hat. Einige Szenen später steht dann die Polizei vor der Tür. Der Schuldige ist nicht da und kommt erst später hinzu. Die Menschen verpassen sich in diesem Film fast zwangsläufig. Es geht gleichermaßen immer um An- und Abwesende, folglich auch um Sehnsucht. Vicky trifft einen neuen Mann namens Jack (Jack Kao), der sie retten soll, doch auch er verschwindet ein ums andere Mal.

Für die klassische Erzählregel „Show, don’t tell“ hat Hou Hsiao-Hsien wenig übrig. Es wird viel beschrieben, was nie oder schwer zu sehen ist. Schon in „Eine Stadt der Traurigkeit“ (1989) lässt er den weißen Terror der Kuomintang-Regierung aus der Ferne an seine Figuren heranschwappen. Die großen Ereignisse wachsen im Schatten und werden nicht zwangsläufig ins rechte Licht gerückt.

Wieso auch? Einem fernen Menschen kann man sich näher fühlen als denen, die einen gerade umgeben. Genauso kann ein Mensch physisch anwesend und doch unendlich weit weg sein. Bedeutsame Ereignisse erreichen uns oft über Telefonanrufe, E-Mails oder Fernsehbilder. Das Epochale lässt sich selten berühren. „Wie stellen Sie sich nun eigentlich vor, dass die Geschichte sich bewegt? Meinen Sie, sie sei in französischen Badeorten besonders tätig?“, fragte Gottfried Benn spöttisch in einem Text an deutsche Exilschriftsteller. In der Welt von „Millennium Mambo“ könnte man erwidern: Ja, so sehr wie fast überall sonst. Das neue Millennium ist für Hou eine Zeit ohne Zentrum, bevölkert von ruhelos suchenden Menschen.

Eine Poesie des Verschleierns

Die Kamera von „Millennium Mambo“ ist wie sie. In den langen Clubszenen oder in der unordentlichen Wohnung des Paares scheint sie stets etwas zu suchen. Sie erforscht den Rhythmus des Lebens, blickt den vielen Freunden und Partnern nach, die vorbeiziehen, ohne einen Eindruck zu hinterlassen. Das ist wichtiger, als eine kohärente Geschichte zu erzählen. Vielleicht sucht sie auch einen Fluchtweg, denn die Innenräume der ersten Filmhälfte erzeugen eine geradezu klaustrophobische Stimmung. Wie so oft in den Filmen von Hou sind Objekte – hier oft hässliche Perlenvorhänge – so nah an der Kamera platziert, dass sie nicht mehr von der Schärfentiefe erfasst werden können. Sie verschwimmen zu Schemen. Ohne Distanz keine Klarheit.

Die Poesie des Films ist vor allem eine des Verschleierns. Überall Unschärfen und Dunkelheit. Die vielen Clubszenen bieten nur selten den Exzess, den sie versprechen. Melancholisches Blau überlagert alles; die Dunkelheit verwandelt Körper in Silhouetten, die nur durch kurze Lichtblitze ihre Menschlichkeit preisgeben. Momente der Erotik füllen das Bild mit einer Leere, als wäre das größte Glück die Abwesenheit aller Dinge.

„Millennium Mambo“ empfing 2001 das neue Jahrtausend mit Hoffnungen und Zweifeln, mit einem konfusen Taumeln zwischen Stroboskopblitzen und kühlem Morgengrauen. Den Film heute zu sehen bedeutet, ihn nicht mehr als Darstellung eines Übergangs zu erleben, sondern als künstlerische Annäherung an eine neue Normalität.

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