Drama | Frankreich 2023 | 118 Minuten

Regie: Jeanne Herry

Drei Frauen und ein Mann, die Opfer von Gewaltverbrechen geworden sind, treffen im Rahmen eines therapeutischen Angebots im geschützten Raum auf verurteilte Gewalttäter. Hinzu kommt für eine der Frauen eine Konfrontation mit dem Bruder, der sie sexuell missbraucht hat. Opfer wie Täter reagieren zunächst skeptisch auf die Mediation, in den von Sozialarbeitern begleiteten Gesprächen kristallisieren sich aber bald auch Fortschritte heraus. Das konzentrierte und sensible Ensembledrama zeigt anhand individueller Geschichten die Erfolge des tatsächlich existierenden „Restorative Justice“-Programms auf. Dabei rücken intensiv Fragen nach Vergebung und Einfühlung in die schmerzhaften Erfahrungen des Anderen in den Vordergrund. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
JE VERRAI TOUJOURS VOS VISAGES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Trésor Films/Chi-fou-mi Prod./France 3 Cinéma
Regie
Jeanne Herry
Buch
Jeanne Herry
Kamera
Nicolas Loir
Musik
Pascal Sangla
Schnitt
Françis Vesin
Darsteller
Adèle Exarchopoulos (Chloé Delarme) · Dali Benssalah (Nassim) · Leïla Bekhti (Nawelle) · Élodie Bouchez (Judith) · Suliane Brahim (Fanny)
Länge
118 Minuten
Kinostart
14.12.2023
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Sensibles Ensembledrama über ein Mediationsprogramm, bei dem Gewalttäter auf Opfer von Gewaltdelikten treffen, um mit der anderen Perspektive konfrontiert zu werden.

Diskussion

„Wir geben keine Empfehlungen, sprechen nicht für den Anderen. – Wir hören nur zu“, lautet das Mantra der Mitarbeiter des „Restorative Justice“-Programms. Seit 2014 ist diese besondere Praxis der Wiedergutmachung Teil des französischen Justizsystems. Sozialarbeiter, Psychologen und ehrenamtliche Helfer kommen zusammen, um für Täter und Opfer von Gewaltdelikten einen gemeinsamen Austausch zu ermöglichen. Sinn und Ziel solcher Konfrontationen ist keine neuerliche juristische Auseinandersetzung, sondern ist der Abbau von Scham und Angst und eine Wiederherstellung der zwischenmenschlichen Beziehungen.

Fanny (Suliane Brahim) und der ältere Michel (Jean-Pierre Darroussin) sind noch nicht lange im Programm und müssen erst gute rhetorische Strategien entwickeln, um die Häftlinge von der Teilnahme zu überzeugen. Nach zehn Jahren Haft wegen Einbrüchen mit Körperverletzung reagiert Nassim (Dali Benssalah) anfangs nur mit Abwehr auf die Vorschläge. Dass das Treffen mit Opfern nicht einmal eine Strafminderung nach sich zieht, irritiert ihn ebenso wie die Idee, dass er sich mit seinen eigenen Gefühlen in Bezug auf die Taten auseinandersetzen soll. Außerdem sind gar nicht die Leidtragenden seiner Handlungen zu den Gesprächen eingeladen, sondern für ihn Unbekannte, die Überfälle von anderen erlebt haben. Was durch eine solche Übertragung situativ möglich werden kann, wird nicht nur von Nassim skeptisch beurteilt.

Das Ensemble als Diskursraum

Auch auf der Seite der von Gewalt Betroffenen gibt es Vorbehalte und Befürchtungen. Die junge Nawelle (Leïla Bekhti) wurde bei der Arbeit an der Supermarktkasse von Vermummten mit gezogener Waffe ausgeraubt. Seit Jahren verfolgen sie Momente der Todesangst, die eine direkte Konfrontation erschweren. Bei den anderen Teilnehmern gibt es ebenfalls Zweifel an der Aufrichtigkeit und der Motivation der Täter. Fanny und Michel sollen die auffangen.

Die Regisseurin Jeanne Herry setzt in „All eure Gesichter“ konzentriert und mit viel Gespür für zwischenmenschliche Dynamiken auf das Genre des Ensemblefilms, um für die „Restorative Justice“ zu werben. Nicht die einzelnen Figuren und ihr Schicksal stehen im Vordergrund, sondern die Interferenz ihrer Begegnungen. Neben dem Gruppensetting, in dem Nassim und Nawelle aufeinandertreffen, erzählt „All eure Gesichter“ aber auch von einer Einzelberatung, mit der ein direkter Prozess zwischen Täter und Opfer angestrebt wird. Chloé, die als Kind von ihrem großen Bruder sexuell missbraucht wurde, wird von Adèle Exarchopoulos gespielt.

Das Verhältnis der beiden Erzählstränge bleibt trotz der größeren Intensität des Konflikts ausgewogen. Die Inszenierung gibt Chloé in Gestalt von Rückblenden mehr Raum als den anderen Figuren, privilegiert ihre Entwicklung aber nicht. Wie schon bei ihrem vorherigen Film „In sicheren Händen“ orchestriert die Regisseurin größere soziale Fragen multiperspektivisch durch das Zusammenspiel einer Vielzahl an Figuren.

Diese szenische Gleichstellung hat für die Wirkung des Films einige Vor- und Nachteile. Dramaturgisch werden dadurch viele Widersprüche und Eigenarten der Protagonisten zugunsten der Gesamtaussage nivelliert. Individuelle Veränderungen erscheinen etwas schematisch, da sie sich dem Ablauf des Mediationsprogramms unterordnen müssen. Gleichzeitig stehen durch den konzeptuellen Zugang das Thematische der „Restorative Justice“ und seine gesellschaftlichen Konsequenzen stärker im Vordergrund. Kollektive Aushandlungsprozesse kommen in den Blick und damit auch abstraktere Fragen nach Vergebung und einer gemeinsamen Überwindung von Ressentiments im Austausch mit dem Anderen.

Einlassen auf den Perspektivwechsel

Wenn drei Betroffene im Stuhlkreis auf drei Inhaftierte treffen, wirkt das wie der spannungsgeladene Beginn eines Theaterstücks. Zwischen ihnen sitzen die Sozialarbeiter, in der Mitte ist ein Stab, der wie bei einem archaischen Ritual das Rederecht verleiht. Auch die Kamera bleibt zunächst dem Geschehen eher äußerlich, fokussiert die geometrische Formation aus der Vogelperspektive. Als der Austausch sich zwischen ihnen dynamisiert, kommen zunehmend Nahaufnahmen der Gesichter in den Blick; Gesten und stimmliche Tonalität rücken inszenatorisch in den Vordergrund.

Mit der Zeit stellen sich zwischen den Akteuren auch überraschende Erkenntnisse ein. Für die Täter ist das anhaltende Leiden der Opfer die größte Irritation, da sie sich nicht vorstellen können, welche nachhaltigen Konsequenzen eine Gewalterfahrung für die Psyche der Betroffenen hat. Dass selbst nach einer juristischen Verurteilung nicht Rache und Triumph überwiegen, sondern Angst und Ohnmacht weiterwirken, ist für die Täter eine neue Perspektive, die mitunter sogar Mitgefühl erzeugt. Für die Opfer wiederum ist es entlastend, dass es im Moment der Gewalt etwas Zweckrationales gibt, das nicht ihnen persönlich gilt. So hilft es Nawelle enorm, dass Nassim während seiner Delikte die Gesichter der Überfallenen gar nicht wahrgenommen hat, weil sich die ganze Anspannung auf die erfolgreiche Durchführung der Tat konzentrierte. Auch Grégoire (Gilles Lelouche), der zusammen mit seiner Tochter im eigenen Heim überwältigt wurde, lernt durch die Geschichte des drogenabhängigen Thomas (Fred Testot) die Motivationen von Tätern neu kennen. Deren Hintergründe sind meist selbst von Gewalt, Armut und tiefgreifenden Abhängigkeiten geprägt.

Die Wiederherstellung des Sozialen

Schwieriger gestaltet sich der Annährungsprozess von Chloé und ihrem Bruder, auch weil dieser gerade aus der Haft entlassen wurde, und dadurch eine Retraumatisierung droht. Sie sucht das Mediationsprogramm auf, um mit Hilfe einer Sozialarbeiterin konkrete Absprachen über den Besuch von Orten in der Stadt festzulegen und damit Kontaktvermeidung sicherzustellen. Im Prozess dieser Auseinandersetzung kommen jedoch auch zwangsläufig tieferliegende Fragen nach den Hintergründen der Tat zur Sprache. Mehr noch als die pragmatischen Regelungen geht es Chloé darum, die durch ihn erfahrenen Verletzungen von ihm anerkannt zu wissen.

Chloés Geschichte wirkt somit kontrapunktisch zu den Episoden des Gruppensettings, in dem eine größere Distanz und damit auch andere Entwicklungsprozesse möglich sind. Sexuelle Gewalt, noch dazu im familiären Rahmen, stellt das Konzept der „Restorative Justice“ vor Herausforderungen, die schwer zu meistern sind.

Damit zeigt die Regisseurin Jeanne Herry auch die Quintessenz des Mediationsprozesses auf. Es geht nicht um eine ökonomisch verstandene Wiedergutmachung, die auf zwischenmenschlicher Ebene ohnehin unmöglich ist. Vielmehr wirkt der Prozess dadurch, dass er der Zerstörung des Sozialen durch die Gewalt entgegenwirkt, indem er für die schmerzhaften Erfahrungen des Anderen sensibilisiert und die Beziehung zu ihm bis zu einem gewissen Grad restituiert. Dieser Andere, so schreibt der Philosoph Emmanuel Levinas, offenbare sich gerade durch das Gesicht oder Antlitz, dass in seiner verletzlichen Ansprache unmittelbar zur Verantwortung aufrufe. Jeanne Herry schafft durch die Nähe zwischen den Figuren ein filmisches Pendant dieses Ansatzes, das in Zeiten zunehmender Verhärtungen und Ressentiments zugleich ein unbequemes Plädoyer für den Perspektivwechsel ist.

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