Thriller | Saudi-Arabien 2023 | 111 Minuten

Regie: Meshal Al Jaser

Eine junge saudi-arabische Frau verlässt ihr gestrenges Elternhaus, um heimlich mit ihrem Freund auf eine Party in der Wüste zu gehen. Doch der Tagesausflug wird wegen diverser Komplikationen zur chaotischen Odyssee durch die Wüste, während der ihre Sorgen und Zweifel, die sie wegen ihrer kleinen Rebellion gegen die Eltern und die patriarchale Tradition empfindet, sich als Gefahr für Leib und Leben manifestieren. Ambitioniertes Debüt zwischen Horrorfilm und Familiendrama, das sich im wilden Jonglieren mit Stilmitteln und Popkulturzitaten gefällt. Junges saudisches Kino zwischen Widerstand und Konformität, Zorn und Vergebung. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
NAGA
Produktionsland
Saudi-Arabien
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Movitaz Ent./Telfaz11
Regie
Meshal Al Jaser
Buch
Meshal Al Jaser
Kamera
Ibraheem Alshangeeti
Musik
Omar Fadel
Darsteller
Adwa Bader (Sarah) · Khalid Bin Shaddad (Vater) · Amal Alharbi (Mutter) · Yazeed Almajyul (Saad)
Länge
111 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Thriller
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Ein Thriller aus Saudi-Arabien um eine junge Frau, die sich wegen einer Party in der Wüste aus ihrem gestrengen, traditionsbewussten Elternhaus in Riad stiehlt. Doch der Ausflug wird zur albtraumhaften Odyssee.

Diskussion

Man kann sich auch im Unbehagen heimisch fühlen. In den Standardsituationen des Horrorfilms zum Beispiel: Die Protagonisten fahren ein wildes Tier mit dem Auto an. Ein schockierender Moment für Zuschauer und Figuren gleichermaßen, der sofort ein grundsätzliches Unbehagen etabliert, genau an der Schwelle zwischen Alltagserfahrung und Albtraum. Zuletzt konnte man diese Szene etwa in „Get Out“, „The Invitation“ oder „Train To Busan“ erleben. Wenn also zu Beginn des neuen Netflix-Films „Naga“ in der Schwärze der saudi-arabischen Wüste ein Kamel überfahren wird, dann heißt Regisseur Meshal Al Jaser das internationale Publikum willkommen. Die Genrekonvention transzendiert alle Sprachbarrieren.

Deutlich interessanter ist allerdings, dass „Naga“ nicht lange ein Horrorfilm bleibt. Stattdessen wird munter von Erzählform zu Erzählform gedriftet, etwas wirr arrangierte Fragmente ergeben eine wilde Reise durch einen viel zu langen Tag. Man stolpert von Thriller-Sequenzen in eine Generationen-Komödie, begleitet Verfolgungsjagden und Familiendramen. So ist der Film vor allem eine Geschichte über das Potential des Individuums – setze eine Person in einen neuen Kontext, und sie kann ein anderer Mensch werden.

Eine junge Frau wagt einen Ausbruchsversuch

Das Kamel wird auf dem Weg zu einem großen Fest überfahren – die junge Sarah (Adwa Bader) hält es in den strengen Verhältnissen ihres Elternhauses nicht länger aus. Sie gibt vor, einkaufen zu gehen, und macht sich mit ihrem Freund Saad (Yazeed Almajyul) auf den Weg zur Party. In ihren Bechern ist mehr als nur Tee, und so entfliehen sie der Enge von Riad, in die verheißungsvolle, aber auch drohende Wüste.

Es ist der Ausbruchsversuch – allerdings einer mit der festen Absicht zur Rückkehr. Eskapismus ohne Flucht, Rausch als kleinste Freiheit in einer Welt der Zwänge. Jeder Schrecken in dieser Geschichte erwächst aus der Enge von Sarahs Existenz. All die Gefahren, mit denen sie konfrontiert wird, sind Manifestationen ihrer Sorgen und Zweifel. Vermeintlich triviale und schreiend dramatische Probleme greifen ineinander. Das richtige Ladegerät fürs Smartphone ist so bedeutsam wie die Flucht vor Verbrechern und Polizei. Selbst wenn sie um ihr Leben bangen muss, tickt in ihrem Kopf noch ein Countdown mit – Sarah will zur verabredeten Zeit wieder zu Hause sein. Sie ist längst erwachsen, aber Vater (Khalid Bin Shaddad) und Mutter (Amal Alharbi) dürfen auf keinen Fall enttäuscht werden.

Versatzstücken westlicher Popkultur

Um die Dringlichkeit zu betonen, wird immer wieder die Uhrzeit eingeblendet, ein wenig wie in der Agentenserie „24“. Meshal Al Jaser arbeitet mit den Versatzstücken westlicher Popkultur. Eine frühe Passage mit einem aggressiven Autofahrer erinnert an Spielbergs „Duell, die endlose Wüste wird eingesetzt wie das Meer in „Open Water“. In dramatischen Momenten schwebt und rotiert die Kamera wie in einem Film von Gaspar Noé, selbst die urbanen Stress-Thriller von Ben Safdie und Joshua Safdie klingen an. Suspense-Szenen wie eine Kamel-Attacke lösen sich leider oft in hektische Schnittgewitter auf, in denen einzelne Impressionen aus finsterer Nacht aufflackern. Was körperlich erfahrbar sein soll, wird so beinahe abstrakt. „Naga“ bekennt sich nie ganz dazu, ein Genrefilm zu sein.

Mit den grenzenlosen Ambitionen des Debütanten präsentiert sich Al Jaser als Formalist und Eklektiker. Er gefällt sich im Erproben von Perspektiven und Stilmitteln, testet verschobene Chronologien und schräge Spezialeffekte. Wichtiger als Kohärenz oder eine klare Dramaturgie ist dabei die Novität.

Zwischen Innovation und Anpassung

Das ist ohnehin der Eindruck, der beim jungen Kino aus Saudi-Arabien entsteht: Regisseure aus einem Land ohne lange Kinotradition können plötzlich mit all den bunten Spielzeugen des Mediums hantieren. Doch das führt nicht unbedingt zu einem freien Kino, sondern eher zu einer Abfolge bekannter Muster, nur eben mit leicht veränderter Abfolge. Der Konflikt zwischen Sarahs eskapistischer Sehnsucht und ihrer Angst vor den gesellschaftlichen Grenzen vollführt sich also auch auf formaler Ebene. Immer wieder bricht eine überraschende Inszenierungsentscheidung mit Sehgewohnheiten, nur um dann doch wieder eingehegt zu werden.

Sarahs widerständig-genervtes Gesicht ist der einzige rote Faden, der sich durch all die Vignetten des Films zieht. Weil man ihr den Respekt vor dem strengen Patriarchat mit größter Härte einbläuen musste, kann sie das Gebaren der Männer nicht ernst nehmen. Die Selbstsicherheit der vermeintlich Unverletzbaren kippt schnell in Lächerlichkeit. Der Poet, den ihr Vater so gerne im Radio hört, entpuppt sich bei einem Treffen als tumber Dampfdichter. Ungelenk hampelt er mit einem Säbel herum, als wäre er ein stolzer Kämpfer, und nicht ein alter Mann, der Kalendersprüche über die Fußballnationalmannschaft tippt. Auch in den wiederkehrenden Rückblenden zu einem Gewaltverbrechen werden testosteronschwangere Kriegergesten als egoistische Großmannssucht entlarvt.

Der männliche Herrschaftsblick wird giftig erwidert

Anhand solcher Schlaglichter zeigt der Film einen Graben zwischen Alt und Jung. Visuell trennt der Regisseur Sarah und den Dichter, indem er die Z-Achse unendlich weit streckt und die beiden nur ganz winzig in der Bildmitte erscheinen lässt, als wäre da ein Ozean zwischen ihnen. Zwar spotten die Älteren immerzu über Sarahs Generation, ihr etwas zu bieten oder entgegenzusetzen haben sie jedoch selten. Die ungewöhnliche Mischung aus Enge und Anarchie, auf die sie trifft, haben sie zu verantworten. Ihr Herrschaftsblick diszipliniert noch, aber Frauen wie Sarah haben längst gelernt, ihn giftig zu erwidern.

Einmal fällt die Frage, warum Kamele als stur gelten. Die Antwort: „Wenn man sie schlägt, vergessen sie es nie.“ Gewalt und Herrschaft veredeln den Menschen nicht; das ist nur eine nette Geschichte. Am Ende des Films schlägt Sarah zurück. Endlich, möchte man meinen. Sie rächt sich für all den Terror und die Grausamkeiten, die ihr widerfahren sind. Eine verzweifelte Geste, die auch noch den Falschen trifft. Aber zumindest weigert sie sich, das Unbehagen als Heimat zu akzeptieren.

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