Taxi Lisboa

Dokumentarfilm | Deutschland 1996 | 84 Minuten

Regie: Wolf Gaudlitz

Tag für Tag lenkt ein bald 94jähriger Taxifahrer (er starb am 18. Januar 1997) sein Oldsmobil durch die engen Gassen Lissabons, wo er auf die sonderbarsten Gestalten trifft. Dokumentarischer Spielfilm, zugleich das Porträt der Stadt und einiger ihrer Bewohner, der in einer poetischen Anverwandlung in den Einzelschicksalen die Geschichte des Jahrhunderts anklingen läßt. Getragen von einer ausgeklügelten Tondramaturgie und der Kraft seiner Bilder vermag der Film das Gefühl einer Hoffnung zu vermitteln, die durch Not und Verzweiflung gegangen ist. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
TAXI LISBOA
Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
solofilm/Bayerischer Rundfunk/Saarländischer Rundfunk
Regie
Wolf Gaudlitz
Buch
Wolf Gaudlitz
Kamera
Claus Langer · Rodger Hinrichs
Musik
Gert Wilden jr.
Schnitt
André Bendocchi-Alves
Darsteller
Augusto Macedo · Josefina Lind · Antonio Torchiaro · Vergilio Ferreira · Eduardo Rafael
Länge
84 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Im Laufe der Jahre haben sich die Spuren des Lebens tief eingegraben, in die rissigen Häuserfronten Lissabons ebenso wie in Augusto Macedos faltiges Gesicht, der Tag für Tag sein schwarzes Oldsmobil durch die engen Gassen lenkt und am Hauptplatz unterhalb des Rossio auf Kundschaft wartet. Die schweren Hände auf ein uraltes Radio gelegt, nickt der Alte manchmal ein und träumt von einer Reise in ferne Länder, von seinem fast hundertjährigen Leben, von unzähligen Erlebnissen, Sehnsüchten und Begegnungen. Mit ihm und seinem Gefährt begibt sich auch Regisseur Wolf Gaudlitz auf eine fantastische Reise durch die portugiesische Hauptstadt und ihre melancholisch-nostalgische Stimmung des "Saudade". In ein poetisch-reales Zwischenreich, das von Schuhputzern und Dichtern, fiktiven wie lebenden Figuren bevölkert wird und von der widersprüchlichen Vielfalt einer Wirklichkeit erzählt, die trotz ihrer Unvollkommenheit liebenswert erscheint. Episodenhaft tauchen in seinem dokumentarischen Spielfilm die sonderbarsten Charaktere auf, ein Ensemble wie aus einem modernen Roman: der Jude Wajsberg, der als Kind aus Prag deportiert und im "Hafen der Hoffnung" dann vergessen wurde; Josefina, die sentimentale Touristenführerin; Eduardo aus Angola, dem nicht in den Kopf will, daß ausgerechnet Portugal noch keinen Nobelpreis für Literatur erhalten hat; ein zauberhaft natürliches Mädchen mit verführerischem Lächeln, ein italienischer Pizzabäcker aus Deutschland, der in Portugal eine Schnellimbißkette aufbauen will, am Ende aber genervt sein Handy ins Meer wirft; Feuerschlucker, Jongleure und arme Poeten, gestrandete Matrosen und ein Taubstummer, der die Namen großer Metropolen auf kleine Zettel schreibt und ins Meer wirft; und schließlich Kapitän Nemo aus Jules Vernes Roman "20 000 Meilen unter dem Meer", einlautloser Schatten in den Straßen, der lose Pflastersteine beiseite räumt. Sie alle, die irgendein Schicksal oder die Laune der Zeitläufe an den Tejo verschlagen hat, treffen im Blick Macedos aufeinander, der mit der Gelassenheit des Alters auf die Wechselfälle des Zufalls reagiert.

Durch die Filme von Wolf Gaudlitz ("Die Väter des Nardino", fd 31 692) weht ein leiser Hauch von Fellini, mit dem ihn nicht nur eine ausgesprochene Neigung zum Circensischen, sondern auch ein Faible für einen ausgefeilten Soundtrack verbindet. Ähnlich wie in Wenders' "Lisbon Story" (fd 31 343) erwacht die portugiesische Hauptstadt auch hier akustisch zu vibrierendem Leben, wird der sorgfältig fotografierte Bilderbogen von einer musikalischen Kommentierung getragen, die zwischen Wehmut und Hoffnung, unerfüllter Sehnsucht und einer Heiterkeit, die durch Not und Verzweiflung gegangen ist, zu vermitteln vermag. Ohne diese Stärke würde Gaudlitz' seit Jahren verfolgte Konzeption eines europäischen, grenzüberschreitenden Kinos schnell Schiffbruch erleiden: Sein Hang zu komplexen Dialogen und essayistischen Exkursen wäre nur polyglotten Menschen wie ihm selbst hinlänglich verständlich. Die deutsche Untertitelung der portugisischen, italienischen, englischen und "brasilianischen" Äußerungen verlangt vom Zuschauer ein so hohes Maß an Aufmerksamkeit, daß die Rezeption ohne stimmige akustische Einbettung allzu schnell ins Kopflastige abgleiten würde. Wer auf solche Hilfsmittel nicht angewiesen ist, wird auch leichter den kunstsinnigen, sehr rhythmischen Schnitt zu schätzen wissen, der die disparaten Episoden und Schauplätze so wundervoll miteinander in Beziehung setzt, daß die Perspektive auf das bald 70jährige Taxi und seinen Fahrer schlüssig und wie aus einem Guß erscheint.

Was Gaudlitz' Film aber zu einem ebenso berührenden wie anregenden Beitrag macht, ist die Kraft seiner Bilder, denen ein zärtlicher Impetus innewohnt. Fast liebevoll streift die Kamera über das Amaturenbrett des Oldsmobils, registriert die Bedächtigkeit, mit der Macedo seine Armbanduhr aufzieht oder die Mischung aus Eifer und Stolz, wenn er den Lack poliert: schlichte Augenblicke, Gesten und Haltungen, die mehr als jedes Wort erschließen. Immer wieder stoßen ungewöhnliche Einstellungen das Assoziationsvermögen an, wenn das gemächliche Taxi inmitten des tosenden Großstadtverkehrs unterzugehen droht oder in der Schlußeinstellung im Fährboot über den (Hades-)Fluß gleitet, rücken metaphorische Schauplätze wie ein Schiffsfriedhof als Treffpunkt mit einer alten Verehrerin dezent ins Bild. Auch wenn dabei nicht jede Anspielung beim ersten Sehen verstanden wird und vor allem mancher Wortwechsel etwas überfrachtet erscheint, erschließt sich das Porträt der Stadt und einiger ihrer Bewohner als feinsinniges Dokument einer poetisch-literarischen Anverwandlung, die in einem hundertjährigen Leben die Geschichte des Jahrhunderts anklingen läßt und trotz dessen Katastrophen die Kraft zur Hoffnung nicht verloren hat.
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