Der siebente Kontinent (1989)

Drama | Österreich 1989 | 107 Minuten

Regie: Michael Haneke

Ein Ehepaar, das sich mit seiner zehnjährigen Tochter in der Routine beiderseitigen Erwerbslebens sowie einer ereignislosen, austauschbaren heimischen Existenz eingerichtet hat, beschließt den gemeinsamen Selbstmord, der mit unerbittlicher Konsequenz ins Werk gesetzt wird. Ein verstörender, radikaler Film um emotionale Kälte und Kommunikationsverlust, der tiefe Ratlosigkeit hinterläßt, zugleich aber auch Widerstandskräfte mobilisiert. Das bestürzende, ebenso entsetzliche wie eindrucksvolle Protokoll der Auslöschung rückt auch religiöse Fragen ein. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
DER SIEBENTE KONTINENT
Produktionsland
Österreich
Produktionsjahr
1989
Produktionsfirma
Wega-Film
Regie
Michael Haneke
Buch
Michael Haneke
Kamera
Anton Peschke
Musik
Alban Berg
Schnitt
Marie Homolkova
Darsteller
Birgit Doll (Anna) · Dieter Berner (Georg) · Leni Tanzer (Eva) · Udo Samel (Alexander) · Silvia Fenz (Kundin)
Länge
107 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
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Diskussion
In einer Zeit, da immer heftigere Bilder das Sehen und Fühlen attackieren, lassen immer weniger Filme wirklich erschrecken. Zu diesen wenigen gehört zweifelsohne die - nach etlichen Fernsehfilmen - erste Kinoarbeit Michael Hanekes. Daß dieses außerordentliche, bereits 1989 in Cannes uraufgeführte Werk hierzulande erst jetzt die Chance einer Kinoauswertung erhalten hat, kommt nicht von ungefähr. "Der Siebente Kontinent", mit dem Haneke seine "Trilogie der Vergletscherung" eröffnete, ist zugleich das verstörendste, radikalste Stück dieses Triptychons um emotionale Kälte und Kommunikationsverlust, die sich in Gewaltakten entladen. Noch konsequenter als in "Benny's Video" (fd 30 298) und "71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls" (fd 31 597) ist die Absage an die ästhetischen und narrativen Konventionen des populären Kinos, noch entschlossener ist in die Spur des großen Vorbilds Robert Bresson eingeschwenkt. Seine klarste Kontur gewinnt der Film, liest man seine drei nach Jahren gegliederten Teile (1987-89) unter dem Vorzeichen des von Paul Schrader aus Bressons (und Ozus) Werken rekonstruierten "transcendental style", jener dreistufigen Bewegung, die von der Beschreibung eines kalten, fühllosen Alltäglichen über ein Moment der Unterbrechung in eine entscheidende Handlung führt, wobei über eine maximale Reduktion der Mittel ein Maximum an Intensität zu erzielen versucht wird.

Unter Hanekes unerbittlichem Blick erscheint das Leben der namenlosen Kleinfamilie von monströser Banalität: Da ist Georg, der karrierefixierte Energie-Ingenieur, da ist Anna, seine Frau, die mit ihrem Bruder Alex das elterliche Geschäft weiterführt, und da ist die etwa zehnjährige Eva, die nominell geliebte, praktisch aber hauptsächlich "organisierte" Tochter. Lange werden ihre überraschungslosen Gesichter bei der Vivisektion ihrer alltäglich-mechanischen Verrichtungen vorenthalten. Freunde oder überhaupt eine Teilnahme an einer Öffentlichkeit jenseits der Arbeitskontakte gibt es nicht. Man hat sich eingerichtet in der Routine des beiderseitigen Erwerbslebens und in der Eigenheim-Burg, eingerichtet in einer Existenz, die so sauber und austauschbar wie das Interieur der Heimstatt ist und so ereignislos wie das Leben der Fische in dem das Wohnzimmer dominierenden Aquarium. Allmählich aber wird spürbar, welche Verwerfungen hinter der glatten Oberfläche zurückgestaut sind. "Evchen" simuliert in der Schule einen plötzlichen Sehverlust, nachdem sie in der Zeitung gelesen hatte "Blind - aber nie mehr einsam"; und wenn sich Anna und Georg lieben, ist dies mehr ein Akt individueller Verzweiflung. Was dann im kürzeren zweiten Teil den Eispanzer, der sich um ihre Herzen gelegt hat, aufbrechen und die Schalheit dieses Lebens bewußt werden läßt, ist die unvermittelte Konfrontation mit der Endlichkeit des Daseins im Blick "en passant" auf die Opfer eines Verkehrsunfalls. Danach ist nichts mehr, wie es vorher war. Als die Familie wieder durch die Autowaschstraße fährt, die sie in der Eingangssequenz noch wie in Erstarrung passiert hatte, finden sich Blicke und Hände der drei, zum ersten Mal ist echte Nähe spürbar. Doch es ist kein Aufbruch zu einem neuen Leben, der sie verbindet, sondern das - vielleicht schon in dieser Szene beschlossene - Projekt des gemeinsamen Selbstmords. Im dritten Teil wird es in unerbittlicher Konsequenz ins Werk gesetzt. Unter dem Vorwand der Auswanderung nach Australien - aber das ist ja nur der 5. Kontinent, der "7." findet sich bestimmt nicht mehr auf Erden - werden die Brücken zur Außenwelt abgebrochen. Versorgt vom Partyservice beginnt die erst muntere, dann immer mühsamere Team-Arbeit der Verwüstung. Kaum eine halbe Stunde Kino ist grauenvoller als diese Negation eines ganzen Lebens, diese systematische Destruktion aller Habseligkeiten und aller Erinnerungen - jede Schallplatte wird zerbrochen, jedes Foto, jede Kinderzeichnung zerfetzt. Einzig das elterliche Bett bleibt heil, um die Familie im Tod auf sich zu versammeln; und der Fernseher, aus dem die arglose Jennifer Rush ihre Flaschenpost vom "Power of Love" ins Sterbezimmer schickt, bevor auch dieser Film abreißt und allein ein "wüstes und leeres" Rauschen auf der Leinwand bleibt.

Haneke wollte im "Siebenten Kontinent" das Schreckliche so weit treiben, daß es "Widerstandskräfte mobilisiert". Damit dies gelingt, muß sich der Zuschauer auf die äußerst asketische Bildsprache einlassen, auf ein fragmentiertes, durch lange Schwarzfilm-Passagen aufgebrochenes Erzählen. Die Fragen, vor die ihn die Bilder unausweichlich stellen, bleiben im Film selbst unbeantwortet. Wie so vieles werden auch die entscheidenden Gespräche, die stattgefunden haben müssen, vorenthalten. So stürzt der kollektive Film-Tod in tiefe Ratlosigkeit, nicht anders als es der authentische Fall, den er aufgreift, getan hat, und die Verwandten, wie der Nachspann informiert, zunächst an Mord denken ließ. Daß es Haneke gelingt, den Zuschauer trotz der Verweigerung psychologischer oder soziologischer Erklärungsangebote immer tiefer in dieses Sterben zu verstricken und mit seiner nüchternen Kamera gerade keine rettende Distanz zu schaffen, das ist das Geheimnis dieses entsetzlichen, großartigen Films. Haneke wäre freilich kein Schüler Bressons "im Geiste", würde er sein bestürzendes Protokoll einer Auslöschung, die tragischerweise selbst in ihrem peinlich "ordentlichen" Vollzug noch dem Falschen des vorangegangenen Lebens verhaftet bleibt, nicht in den Horizont religiösen Fragens einrücken. Die Transzendenzlosigkeit, die über dem zu einer Grabhöhle zugerichteten Eigenheim liegt, wird von Evas Stoßgebet durchkreuzt: "Lieber Gott mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm." Ob da jemand ist, der diese letzten Worte des Kindes hört, und wie er es dann überhaupt zulassen konnte, daß es so weit gekommen ist - auch die Last dieser "letzten" Fragen wird dem Zuschauer nicht erspart und nicht erleichtert.
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