Die Überlebenden (1996)

Dokumentarfilm | Deutschland 1996 | 92 Minuten

Regie: Andres Veiel

Dokumentarfilm, in dem der Autor/Regisseur teils aus Neugier, teils aus persönlicher Betroffenheit den Spuren dreier ehemaliger Klassenkameraden folgt, die sich nach sehr verschiedenen Lebenswegen das Leben genommen haben. Eine unspektakuläre filmische Rekonstruktion von hoher innerer Spannung, die auf psychologische Spekulationen verzichtet und keine vorschnellen und beruhigenden Erklärungen sucht, stattdessen aber zum Nachdenken führende Verunsicherung auslöst. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Journal Film
Regie
Andres Veiel
Buch
Andres Veiel
Kamera
Lutz Reitemeier
Schnitt
Bernd Euscher
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Ein Restaurant in der Nähe von Stuttgart, irgendwann im Jahr 1995. Die Schüler des Abiturjahrgangs 1979 sitzen beim Klassentreffen und tauschen Erinnerungen aus. Drei, die mit ihnen damals die Schulbank drückten, sind nicht dabei: sie haben sich während der letzten Jahre umgebracht. Der Filmemacher Andres Veiel, seinerzeit selbst in (lieser Klasse, ist einer der "Überlebenden". In seiner Dokumentation begibt er sich auf die Suche nach jenen Lebensumständen, die seine drei Mitschüler von einst dazu veranlaßt haben könnten, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Aus Neugier, aber auch aus persönlicher Betroffenheit, wie Veiel zu Beginn des Films sagt.

Da ist zunächst Thilo, der Akademikersohn. Ein Sonnyboy, der von einer Karriere als Musiker träumt in der Schule der allseits beliebte Freak ist, aber offenbar mehr unter seinem autoritären Vater leidet, als seine Freunde mitbekommen. Er sympathisiert mit der RAF, ist regelmäßig bei den Prozessen in Stuttgart-Stammheim dabei. Irgendwann haut er ab, trampt mit einem Freund nach Frankreich, klaut ein Auto und wird von der Polizei erwischt. Zurück in Deutschland sagt er zur Überraschung seiner Freunde seinen musikalischen Ambitionen ade und beginnt ein Medizin-Studium. Sehr zur Freude seiner Eltern, die glücklich sind, daß aus ihrem Sohn nun doch noch etwas Richtiges zu werden scheint. "Arzt im Praktikum" lassen sie später in Thilos Todesanzeige setzen. Der, der sich als erster das Leben nahm, war Rudi. Ein gänzlich anderer Typ als Thilo. Aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend, der Vater ein "Flüchtling" aus dem Osten, der mit emsiger Arbeit in seinem kleinen Feinkostladen jahrzehntelang geschuftet hat, um dazu zu gehören. Zu jener kleinstädtischen Gemeinschaft, in der Fremde nicht eben mit offenen Armen aufgenommen werden. Auch Rudi will dazugehören. Doch der schmächtige und gehemmt wirkende Schüler wird von den anderen Jugendlichen nicht für voll genommen. "Wie ein nasser Sack hing der im Sportunterricht immer am Reck", erinnert sich ein Mitschüler. Später bricht er sein Jura-Studium ab und geht nach Schottland, wo er als Lehrer an einem College arbeitet. Nach einem Jahr ist er zurück in der heimatlichen Kleinstadt, wo ihn Bürger lesend durch die Felder Spazierengehen sehen. Womit ihnen klar ist, daß es mit Rudi kein gutes Ende nehmen wird.

Tilman, der dritte im Bunde, hat mit Thilo Musik gemacht. Nach der elften Klasse verläßt er das Gymnasium und beginnt eine Schlosserlehre. Ein guter Schüler ist er nie gewesen. Ganz im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder, dem Stolz der Eltern. "Die elfte Klasse ist doch auch was; das schafft auch nicht jeder", sagt der Bruder heute. Tilman ist der typische Einzelgänger. Anders als Rudi scheint es ihm auch nichts auszumachen, kaum Freunde zu haben. Um sich dem Wehrdienst zu entziehen, geht er nach Berlin. Kontakt zu seinen Mitschülern von einst hat er kaum noch. Nur Thilo besucht ihn manchmal. Zu Weihnachten werde er wohl kommen, schreibt Tilman seinen Eltern. Doch dann erhalten sie Ende November die Nachricht, daß ihr Sohn tot in einer Garage aufgefunden worden ist. Er hat sich mit Auspuffgasen das Leben genommen.

Kurzbiografien von drei Menschen, die Andres Veiel nicht referiert, sondern nach und nach aus den Aussagen und Erinnerungen von Freunden, Eltern, Arbeitskollegen und anderen "Überlebenden" rekonstruiert. Dazwischen eingeschnittene Fotografien und wenige Super 8-Aufnahmen von "damals". Thilo, wie er langhaarig in einem Zottelmantel im Schnee herumtollt. Dazu läuft Deep Purples Schmacht-Song "Child in Time", seine Lieblingsmusik. Eine Kamerafahrt entlang der schmucken Häuser ihres Heimatortes, Gespräche mit Eltern, die zwischen Trauer und vorwurfsvollem Unverständnis hin und her gerissen sind.

Die Mittel, die Veiel hier verwendet, sind eigentlich gänzlich unspektakulär. Durch ihren geschickten dramaturgischen Einsatz entwickelt der Film jedoch einen eigentümlichen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Zum einen sind die einzelnen Statements denkbar kurz gehalten, zum anderen setzt Veiel immer wieder auf Irritation. Wird hier ein Verdacht geäußert (War Thilos Vater ein NS-Richter?), wird er mit der nächsten Aussage wieder relativiert: "Thilo brauchte diese Vorstellung", sagt eine Freundin. Hier geht es nicht um detektivische Kleinarbeit, an deren Ende eine geradlinige Plausibilität steht. Je mehr man über diese drei Menschen erfährt, desto nebulöser, unverständlicher und letztlich auch seltsam banal erscheint ihr Tod, zumal sich Veiel mit irgendwelchen psychologischen Spekulationen wohltuend zurückhält. So bleibt am Ende kein beruhigendes "Mit denen mußte es ja so kommen", sondern ein irritierendes "Es hätte eigentlich auch jeden anderen treffen können". Das Überleben als Zufall. Fraglos der spannendste Dokumentarfilm, der in der letzten Zeit in den Kinos zu sehen war.
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