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Filmkritik in der Schweiz

Welche Rolle spielt Filmkritik in der Kinolandschaft der Schweiz? Der Band „Freie Sicht aufs Kino“ gibt Aufschluss

Veröffentlicht am
27. Januar 2020
Diskussion

Derzeit versammelt sich in Solothurn wieder die Filmszene der Schweiz zu dem Filmfestival (22.1-29.1.), das jährlich als Kino-Schaufenster des Landes fungiert. Welche Rolle spielt die Kritik in dieser Filmlandschaft? In dem Sammelband „Freie Sicht aufs Kino“ blicken schweizerische Autoren zum 60-jährigen Jubiläum der Filmzeitschrift „Filmbulletin“ auf den Bedeutungswandel, den die Filmkritik in den letzten Jahrzehnten in ihrem Land erfahren hat.


„Denn für große Teile der Filmindustrie und für weite Kreise der Kinobesitzer ist Filmkritik immer nur zweierlei: Gutwillige Gratisreklame, sofern sie lobt, und böswillige Geschäftsschädigung, sofern sie tadelt“, notierte Gunter Groll im Vorwort zu „Magie des Films“, der ersten Sammlung seiner Filmkritiken, im Jahr 1953, also zu einer Zeit, als das Kino noch das Monopol auf das bewegte Bild hatte und es in der Publizistik noch richtige Star-Filmkritiker wie zum Beispiel Groll in München (Süddeutsche Zeitung) oder Martin Schlappner in Zürich (Neue Zürcher Zeitung) gab. Grolls Befund traf den problematischen Kern der Sache und ließ etwas von den Anfeindungen ahnen, denen die Filmkritik damals ausgesetzt war (und heute noch ist), und hielt das Bild einer selbstbewussten, eigensinnigen, frei von jeglicher Bevormundung urteilenden Filmkritik dagegen.

Der „Bedeutungsverlust“ der Filmkritik ist eines der zentralen Themen in dem von Tereza Fischer, Philipp Brunner und Marius Kuhn herausgegebenen Sammelband „Freie Sicht aufs Kino. Beiträge zur Filmkritik in der Schweiz“. Dabei geht es um einen Bedeutungsverlust, der nicht nur die Filmkritik in der Schweiz betrifft, sondern in allen Ländern zu verzeichnen ist, in denen einmal die klassische Filmkritik als bedeutsame Stimme im öffentlichen Diskurs Geltung hatte.

Aus Anlass des 60. Geburtstags der wichtigsten Filmzeitschrift der Schweiz

Anlass für den Sammelband, der vielperspektivisch informiert und munter erzählt, ist das sechzigjährige Bestehen der in Zürich erscheinenden Filmzeitschrift Filmbulletin, die aus der Arbeit eines Vereins kirchlicher Jugendorganisationen hervorging und bis 2014 vom Katholischen Filmkreis Zürich herausgegeben wurde. Anfänglich war „Filmbulletin“ – ähnlich wie die kirchlichen Publikationen „Filmdienst“ (katholisch) und „Epd-Film“ (evangelisch) in der BRD – ein Organ, das moralischer Orientierung dienen sollte.

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    Mit der Zeit jedoch entwickelte sich die Zeitschrift über das moralische Wächtertum hinaus zu einer renommierten cineastischen Publikation, die alle Aspekte des Films, seinen ästhetischen Eigenwert und seine gesellschaftlichen Bezüge, kritisch würdigte. Seit 2014 wird „Filmbulletin“ von einer unabhängigen Stiftung getragen, erscheint achtmal im Jahr und ist heute eine der selten gewordenen, verlässlichen Bastionen des ambitionierten Films.

    Erscheint seit 60 Jahren: Das "Filmbulletin"
    Erscheint seit 60 Jahren: Das "Filmbulletin"

    Schweizer Eigenheiten und Grenzüberschreitendes

    In den auf die Historie der Schweizer Filmkritik eingehenden Beiträgen des Buches, vor allem in Martin Schlappners geschichtlichem Abriss „Vom mählichen Werden eines Filmkritikers“ (verfasst 1995) wird deutlich, wie sich gesellschaftliche Umwälzungen in der Filmkritik spiegeln. Manche Schweiz-spezifischen Passagen bleiben dabei dem Nicht-Schweizer unverständlich, aber die zentralen Fragen, die sich der Schweizer Filmkritik im Verlauf ihrer Geschichte stellten, sind grenzüberschreitend: Kann der als Jahrmarktsattraktion geborene Film überhaupt eine Kunst sein? Ist der Tonfilm ein künstlerischer Rückschritt von der Bildkunst des Stummfilms zum abgefilmten Theater? Wer lieferte die beste Definition des Autorenkinos? Waren es wirklich die Protagonisten der Nouvelle Vague? Welchem Wandel unterlag das Kino durch den Aufstieg des Fernsehens in den 1960er-Jahren und später durch die neuen Technologien? Warum sind die Sphären von künstlerisch ambitioniertem und populärem Film, also von – wie man das heute sagen würde – Arthouse- und Popcornkino seit Ende der 1960er-Jahre derart weit auseinandergetreten?

    Andere wichtige Themen und Sujets des Buches: Die Frauenfrage wird in einem Gespräch von Tereza Fischer (seit fünf Jahren Leiterin des „Filmbulletins“) mit Denise Bucher (Leiterin von „Frame“, dem Filmmagazin der „NZZ am Sonntag“) erörtert. Johannes Binotto erläutert neue Formen der Filmanalyse wie den Videoessay. Den spannendsten Beitrag liefert Andreas Scheiner unter dem Titel: „Untergang oder Übergang – Die Filmkritik im digitalen Wandel“. Ein Bericht eigener Erfahrungen und Recherchen. Überall dort, wo derzeit im deutschsprachigen Raum an Universitäten oder Hochschulen „Filmkritik“ auf dem Studienplan steht, sollte dieser Bericht Pflichtlektüre zur Einführung ins Fach sein.

    Beispiele für den Bedeutungsverlust der Filmkritik

    Scheiner schildert eine Fülle von Beispielen dafür, wie der Bedeutungsverlust der Filmkritik konkret vonstattenging und -geht. Haarsträubende, lächerliche, traurige, aber immer amüsant erzählte Exempel dafür, wie unliebsame Kritiker gemaßregelt, verklagt, auch auf schwarze Listen gesetzt wurden. Darunter die von Scheiner selbst erlebte Geschichte mit Til Schweiger, der nur handverlesene „Kritiker“, also Hofberichterstatter, zu Pressevorführungen seines Films Kokowääh zuließ. Oder markante Beispiele dafür, wie der Platz einstiger Rezensionen nun von Formaten (Interviews, Fotostrecken, empfehlenden Kurzbeschreibungen) eingenommen wird, die von vorherein keinen Zweifel an ihrer Reklamedienlichkeit lassen.

    Kuratierte Streaming-Plattformen wie "Filmo" sind ein Weg, von der Kritik gefeierte Filme an die Zuschauer zu bringen.
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    Scheiner zeigt, dass als Begründung für die zum Bedeutungsverlust der Filmkritik führenden Maßnahmen meist zwei Imperative angeführt werden, der ökonomische und der technologische, die als unausweichliche Modernisierungsgebote hingestellt werden. Schaut man die Beispiele aber genauer an, entdeckt man, dass der technologische Wandel meist nur zum Vorwand genommen wird, um Versuche der Gängelung, Einflussnahme und auch der gänzlichen Abschaffung der Kritik als irgendwie notwendige Modernisierungsmaßnahmen zu tarnen.

    1986 präsentierte Hans Magnus Enzensberger in der NZZ unter dem Titel „Rezensenten-Dämmerung“ seine spöttisch vorgetragene Diagnose vom definitiven Ende des Kritikers alter Schule. Er stellte fest, dass an die vakante Stelle der traditionellen Rezension zweierlei Textarten getreten sind: der pädagogisch und wissenschaftlich sich gebende Text aus dem universitären Betrieb, und die Reklame-Rezension, die im Kulturbetrieb Usus wird.

    Der vor kurzem verstorbene Freddy Buache (1924-2019), langjähriger Direktor des Schweizer Filmarchivs, resümiert seinen Buchbeitrag, betitelt: „Erkundungen der Sprache des Films – Filmkritik in der französischen Schweiz“ so: „Die Angelegenheiten des Kinos haben sich gewandelt. Die Universität, die Fachleute der Kommunikation haben die Macht im ernsthaften Bereich der Erkundung der Sprache des Films übernommen, und die siebte Kunst ist entzweigebrochen: einerseits in die Ästhetik und andererseits in die Industrie. Das ist genau das, was die nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Kritiker zu vermeiden suchten.“


    Hinweis:

    Philipp Brunner, Tereza Fischer, Marius Kuhn (Hg.): Freie Sicht aufs Kino. Beiträge zur Filmkritik in der Schweiz“. Edition Filmbulletin Bd. 5. Schüren Verlag, Marburg 2019, 176 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 22 Euro / 25 CHF.


    Fotos: Schüren Verlag, filmbulletin.ch, filmo.ch

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