© Kerry Brown (Ben Wheatley beim Dreh von "Rebecca")

A Different Class - Ben Wheatley

Ein Porträt des britischen Filmemachers

Veröffentlicht am
19. April 2023
Diskussion

Ben Wheatley verpackt soziale Versuchsanordnungen in ausgefallene Genre-Mixturen. Gelernt hat er sein Handwerk als Autodidakt; bekannt wurde er mit Filmen wie „Sightseers“, „High-Rise“, „Free Fire“ oder der Netflix-Neuverfilmung von Daphne du Mauriers Schauer-Psychodrama „Rebecca“. Der Streamingdienst MUBI widmet ihm aktuell unter dem Titel "Bloody Hell: The Films of Ben Wheatley" einen Fokus und zeigt seit 15.4. seinen Film "A Field in England". Ein Werkporträt.


Karambolagen und Komik haben oft eine merkwürdige Beziehung. Lediglich das Timing, die Körperlichkeit und visuelle oder affektive Paradoxien machen den feinen Unterschied zwischen dem Drama eines Aufpralls und der lächerlichen, absurden oder grotesken Wahrnehmung des Vorfalls. Die entstehende Verschiebung lässt uns auflachen, erschaudern – oder im besten Falle beides. Im Kino des britischen Filmemachers Ben Wheatley kristallisiert sich diese Dissonanz immer wieder in der Inszenierung von Autounfällen heraus, die seine Figuren meist selbst verursachen: In Sightseers (2012) setzt Camper Chris mit seinem Wohnwagenanhänger schwungvoll zurück und walzt aus Versehen einen anderen Touristen nieder. Über den Mann hatte er sich zuvor aufgeregt, weil er bei einem Ausflug Bonbonpapierchen auf den Boden geworfen hatte. Chris kann seine Schadenfreude kaum verstecken, er sieht die Ordnung nun wiederhergestellt. In Free Fire (2016) zerquetscht der Gangster Harry den Kopf seines Erzfeinds Stevo in Schrittgeschwindigkeit unter einem Truck – zu John Denvers Liebeslied „Annie’s Song“. Und in High-Rise (2015) stürzt sich Munrow, ein Bewohner des titelgebenden Hochhauses, von seinem Balkon und landet entstellt und verkrümmt auf der Kühlerhaube eines parkenden Wagens. Sein Aufprall läuft in Zeitlupe ab und überhöht den langsam zusammengestauchten Körper und die sich zugleich im Auto bildende Delle zu einem von der Realität des Dramas losgelösten Spektakel. Dieses gleicht keinem Unfall mehr, sondern dem Höhepunkt einer ästhetisch-akrobatischen Einlage. Wie diese Karambolagen oszillieren Ben Wheatleys Filme zwischen schwarzhumorigen Genrestücken und sozialrealistischen Dramen – ein Kunststück, das nicht vielen Filmemachern gelingt.

Gewalt, Komik und Ästhetik laufen bei Ben Wheately zusammen: eine Szene aus "Free Fire" (©Splendid )
Gewalt, Komik und Ästhetik laufen bei Ben Wheately zusammen: eine Szene aus "Free Fire" (©Splendid )

Ein Autodidakt

Wheatley nämlich lässt Gewalt, Komik und Ästhetik regelrecht unaufgeregt in Kristallisationspunkten wie diesen Autounfällen zusammenlaufen. Doch die Beiläufigkeit entsteht nur durch das richtige Timing und die richtige Tonalität, sonst wäre der Effekt hinüber. Das Überraschungsmoment ist zentral und dauert manchmal nur den Bruchteil einer Sekunde. Unter anderem darin liegt Wheatleys Kunst, und die begann jenseits von Filmhochschulen – er ist Autodidakt, kommt eigentlich aus der Bildhauerei und wurde vor seiner Regie-Karriere als begabter Animationskünstler gehandelt.


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Tatsächlich war es ein nur neun-sekündiger Clip, den er 2005, also noch kurz vor Youtube und den sozialen Netzwerken, auf seinem Blog veröffentlichte. In „Cunning Stunt“ springt Wheatleys Kumpel Robin Hill über ein auf ihn zufahrendes Auto, kommt auf beiden Füßen auf und jubelt – um im nächsten Moment von einem aus der anderen Richtung kommenden Wagen ungebremst niedergemäht zu werden. Mittlerweile würde man den Clip wohl ein Meme nennen, das viral ging. In Interviews lacht Wheatley heute über die mittelmäßig ausgeführten Spezialeffekte des Videos, doch verhalf es ihm zu zehn Millionen Klicks und einigen Aufträgen aus der Werbung, die ihm das nötige Geld für sein erstes Spielfilmprojekt eintrugen.

Zwischen Micro-Budget und Blockbuster

Wheatley lavierte sich so an potenziellen Förderern und Institutionen vorbei und drehte „Down Terrace“ (2009) für nur 6000 Pfund. Es sei ihm zu langwierig gewesen, auf Fördergelder und Zusagen von Produzenten zu warten, so Wheatley, entsprechend gering sei auch der Erfolgsdruck gewesen. Wider Erwarten gelang ihm mithilfe von Laiendarstellern und einem nahezu kammerspielartigen Setting in Robin Hills Wohnung ein ziemlicher Volltreffer – „Down Terrace“ gewann auf dem Fantastic Fest in Austin den Preis als bester Film und ebnete den Weg für weitere Projekte. Zwischen 2010 und 2020 hat er acht Langspielfilme sowie eine Episode für das Omnibusprojekt The ABCs of Death (2012) gedreht – er war für den Buchstaben „U“ wie „unearthed“ zuständig und filmte die Exhumierung und Tötung eines Vampirs aus dessen Perspektive). Zudem agierte er für einige vielversprechende Genreregisseure als ausführender Produzent – allen voran für Peter Stricklands The Duke of Burgundy (2014) und „In Fabric“ (2018) sowie The Greasy Strangler“ (2016) von Jim Hosking.

Großer Durchbruch: "Sightseers" (©Ascot Elite)
Großer Durchbruch: "Sightseers" (©Ascot Elite)

Der endgültige Durchbruch in die vorderste Riege der britischen Filmemacher gelang Wheatley 2012 mit der Horrorkomödie Sightseers, die in der „Quinzaine des Réalisateurs“ in Cannes ihre Uraufführung hatte. Hatte er bis dahin seine Filme sehr unabhängig produziert, verschaffte ihm sein Bekanntheitsgrad nun auch Zugang zu höheren Budgets. Wheatley reflektiert diese Umstellung intensiv und sieht seinen Schritt in Richtung großer Studioproduktionen wie dem 2020 auf Netflix erschienenen Hitchcock-Remake Rebecca (2020) und dem für 2023 angekündigten Sequel zu The Meg nicht als Einbahnstraße oder Ausverkauf. „Meiner Meinung nach gibt es nicht nur thematische Genres, sondern auch Budget-Genres und die beeinflussen die Erfahrung des Filmemachens“ so Wheatley.

Als einer der produktivsten Filmemacher – aktuell sind sechs Projekte aus allen Genres angekündigt – kann er sich weiterhin auf die jeweiligen Anforderungen neu einstellen, weil er tatsächlich unabhängig Filmemachen gelernt hat, immer eine Lösung ausbaldowern konnte und scheinbar an dieser Jonglage Spaß findet: Während des Corona-Lockdowns quetschte er noch einen Microbudget-Film in seinen Zeitplan, bevor er sich an die Vorproduktion für „Tomb Raider“ machte – „schlichtweg, um bei Trost zu bleiben.“

Erfolgsduo: Ben Wheatley und Amy Jump

Wheatley arbeitet schon immer mit einem festen Team zusammen, allen voran seine Drehbuchautorin (und Ehefrau) Amy Jump, mit der er auch immer den Schnitt der Filme übernimmt. Die beiden starteten ihre Karriere gemeinsam mit dem Blog MrandMrsWheatley.com, auf dem auch „Cunning Stunt“ erschien. Der Blog ist zwar leider nicht mehr online, aber mit etwas Geduld lassen sich die Clips und Videos noch aufstöbern. In Interviews spricht Wheatley daher auch sehr konsequent von „unseren“ Filmen und auf Nachfrage erläuterte er im „Guardian“, dass Amy Jump grundsätzlich keine Interviews gebe, weil sie der Ansicht sei, dass die Filme für sich stehen sollten – „am liebsten wäre es ihr, wenn ich auch nicht mit der Presse sprechen würde“, ergänzte er lachend. Wer von einem Ben-Wheatley-Film spricht, meint also immer einen Film des Duos Wheatley-Jump, und diese kontinuierliche Zusammenarbeit hat im Spannungsfeld der vielen Genre-Mixturen und der zwischen der rauen Handkamera-Ästhetik in „Down Terrace“ und Kill List und der Hochglanzoberfläche in High-Rise eine eigene Handschrift ausgebildet.

Tom Hiddleston in "High-Rise" (©DCM)
Tom Hiddleston in "High-Rise" (©DCM)

In „Down Terrace“ kündigen sich wiederkehrende Themen und Haltungen an, die sich in den folgenden Filmen weiter entwickeln sollten: Der Gangster-Film ist in der britischen Arbeiterklasse angesiedelt und kippt ins Familiendrama, als das Gang-Oberhaupt Bill und sein Sohn Karl aus dem Gefängnis entlassen werden und herauszufinden versuchen, wer aus der Bande sie ursprünglich verpfiffen hatte. Die Vater-Sohn-Beziehung erweist sich als, gelinde gesagt, dysfunktional und lässt das gesamte Konstrukt aus Familie und mafiöser Gang-Struktur implodieren. Wer auch nur den Anschein macht, nicht vertrauenswürdig zu sein, wird beseitigt. Die Morde oszillieren zwischen persönlichem Drama und absurder Komik – einer spiegelt sogar die Szene aus „Cunning Stunt“, wenn hier ein Großmütterlein unvermittelt vor ein fahrendes Auto gestoßen wird. Als Zuschauer weiß man nicht recht, ob man entrüstet schnauben oder albern auflachen soll angesichts dieses überzogenen Gewaltausbruchs, denn Komik und Drama überlagern einander in diesem Moment gänzlich.

Genre als soziale Versuchsanordnung

Es verwundert daher auch nicht, dass Wheatley sowohl Filmemacher wie Alan Clarke und Ken Loach, die für ihre naturalistischen und bisweilen aktivistischen Dramen bekannt sind, aber auch die ästhetisch wie narrativ dichten und teils mystischen Filme von Nicolas Roeg und John Boorman anführt, wenn er nach Vorbildern gefragt wird. Besonders Boormans wegen ihres B-Movie-Charmes mittlerweile als Kultfilm gefeierte Science-Fiction-Dystopie Zardoz (1974) hat es ihm angetan, und es ist durchaus verständlich, weshalb. Die Kombination aus klassischem Genre, irrwitziger Ästhetik und sozialem Ernst machen den Film zu einem Verwandten der Wheatley-Konstrukte: Sean Connery mit Pferdeschwanz, Lendenschurz und kniehohen Stiefeln kämpft hier gegen ein autokratisches Regime um Klassengerechtigkeit. Genre funktioniert hier immer zugleich auch als soziale Versuchsanordnung.

Wheatley betont wiederholt, dass es ihm neben den Genreeinflüssen immer wichtig war, nicht nur actionreiche Filme zu machen, sondern menschliche Figuren und ihre lebensweltlichen Sorgen und Anstrengungen zu vermitteln, in die man sich hineinfühlen kann. Er habe sich schon immer darüber gewundert, wie wenig politisch das britische Kino sei, weil es entweder historisch entrückte Dramen oder weichgespülte Pseudo-Statements produziere. Nun sind Wheatleys eigene Filme auf den ersten Blick keine Manifeste, doch eben immer auch Versuchsanordnungen in einzelnen Mikrokosmen der Gesellschaft: die Familie in „Down Terrace“, die Kollegen Jay und Gal, die in Kill List Auftragsmorde erledigen, um ihre Familien zu ernähren und in ein Folk-Horror-Szenario stolpern, das Camper-Pärchen Chris und Tina in Sightseers, das sich gemeinsam über familiäre und gesellschaftliche Ablehnung hinwegtröstet und in einer Mordserie, nun ja, überreagiert. Die dysfunktionalen Familien greift er 2018 in „Happy New Year, Colin Burstead“ wieder auf und seziert hier im Rahmen einer Silvesterfeier so realistisch wie nie zuvor die großen und kleinen Eitelkeiten, nachgetragenen Verletzungen und Fehden innerhalb einer Großfamilie.

Klassenkampf und Genre-Mix

Ähnlich funktionieren in seinen Filmen jedoch auch die komplexeren Strukturen der Klassengesellschaft, die etwa in High-Rise zum anarchistischen Aufstand führen, scheinbar beiläufig die Brexit-Diskussion reflektieren und auf gruselige Weise den Brand im Grenfell Tower 2017 vorausahnen. In Free Fire misslingt ein Waffendeal zwischen der IRA und amerikanischen Gangstern und eskaliert in einer sich über den gesamten Film spannenden Schießerei, aus der eigentlich alle Beteiligten als Verlierer hervorgehen. Er dehnt also eine einzelne Actionszene auf die Dauer eines Films aus, um die Beziehungsgeflechte unter die Lupe zu nehmen und damit auch die Actionsequenz ihres rein affektiven Reizes zu entkleiden und somit zu entzaubern. Er recherchierte dazu in Polizeiberichten über Schießereien und sei, wie er selbst sagt, überrascht gewesen, wie wenige der Kugeln letztendlich ihr Ziel treffen – ein Umstand, den er in seinem Film zum komischen und dennoch spannungsreichen Prinzip erhebt: Es wird geballert, was das Zeug hält, aber die meisten Treffer sitzen nur zufällig oder erwischen die eigenen Leute.

"Free Fire" (©Splendid)
"Free Fire" (©Splendid)

Ben Wheatley reflektiert das in Großbritannien nach wie vor gelebte Klassensystem auch aus der eigenen Warte. Er ist der Erste in seiner Familie, der studiert hat, und sagt aus eigener Erfahrung, dass das eben einen massiven Unterschied macht: „Das verändert die Art und Weise, wie man spricht, wie man mit anderen Menschen interagiert und welche Einstellung man der Welt gegenüber hat.“ Letztendlich ist es genau diese Reflexion, die seine Figuren zu realistischen und authentischen Persönlichkeiten macht. All die Verbrecher und Egomanen, die Sozialschmarotzer und Ekel haben immer eine menschliche Seite, die ihr Handeln verständlich macht. Das wird besonders deutlich, wenn er sich aus den Kammerspiel-Settings der Wohnungen, Camper-Vans, Hochhäusern und Lagerhallen hinausbegibt und in A Field in England (2013) im englischen Bürgerkrieg abseits eines Schlachtfelds Feiglinge und Deserteure versammelt. Denn die klaustrophobe Qualität der Innenräume bleibt in der Weite dieses Feldes merkwürdigerweise erhalten, wenn diese Männergruppe mithilfe von psychedelischen Pilzen und Astrologie neue Hierarchien aushandelt.

Wheatleys Kammerspiele finden in den von Klasse und Gesellschaft begrenzten Mindsets der Figurenkonstellationen statt, denen er wie Ratten im Labyrinth dabei zusieht, wie sie sich schlagen. Das ist bisweilen grausam und komisch zugleich, aber nie Selbstzweck. Wheatley ist ernsthaft an seinen Figuren gelegen und er will für sie das Beste – was auch immer das in der Eigendynamik ihrer Misere bedeutet.

"A Field in England" (©Ascot Elite)
"A Field in England" (©Ascot Elite)




(Der Text erschien erstmals am 21.10.2020 anlässlich des Starts von "Rebecca" auf Netflix)

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