© imago images / Cover-Images (Das vom Architekten Pierre Chican in Anlehnung an den Galaktischen Senat in „Star Wars“ entworfene Åama Cinema in Paris soll 2021 eröffnen)

Die Kinokultur der Zukunft

Ein Kommentar zur unerträglichen Stiefkind-Rolle der Filmkultur im Vergleich zu anderen Kunstsparten in Deutschland.

Veröffentlicht am
31. Oktober 2020
Diskussion

Derzeit tobt in Köln eine Auseinandersetzung zwischen dem Filmclub 813 und dem Kölnischen Kunstverein. Ein lokaler Konflikt, der indes bezeichnend ist für den Stand der Dinge im Verhältnis Film und Kunst in Deutschland und die unerträgliche Stiefkind-Rolle, die Filmkultur hierzulande im Vergleich zu anderen Kunstsparten fristet. Ein Plädoyer für ein radikales Umdenken.


Eine fristlose Kündigung ist unter Kulturinstitutionen schwerstes Geschütz und im fraglichen Konflikt nur die jüngste Eskalationsstufe eines langjährigen Konflikts, der, wie immer in solchen Fällen, auch mit Personen und Allzumenschlichem zu tun hat, dem Wesen nach aber mit Strukturen. Nachdem der Filmclub 813 auf dem Rechtswege eine nach seinem Dafürhalten berechtigte Nutzung seines Kinos durch Dritte hatte durchsetzen wollen, reagierte der Vorstand des Kölnischen Kunstvereins kurzerhand mit außerordentlicher Kündigung. Der Filmclub musste sein Programm mit sofortiger Wirkung einstellen. Der Kunstverein, eine der ältesten Institutionen für junge zeitgenössische Positionen im Rheinland, residiert in einer architektonisch bemerkenswerten Immobilie aus den frühen 1950er-Jahren, die ihm durch die Stadt Köln per Ratsbeschluss für 30 Jahre mit der Auflage überlassen wurde, das darin befindliche Kino dem Filmclub 813, der dieses schon seit 1995 unter dem British Council hatte nutzen dürfen, miet- und nebenkostenfrei zu überlassen. Nach Auskunft von dessen Vorsitzenden Bernhard Marsch habe es sieben Jahre benötigt, um die Nutzung mit dem Kunstverein vertraglich zu regeln.

Aber kein Vertrag der Welt hilft, wenn das Gesprächsklima schon verpestet ist. Die Direktorin des Kunstvereins, Nikola Dietrich, merkt auf Nachfrage an, sie sei bereits in einen Schwelbrand geraten. Jetzt muss womöglich getrennt werden, was mehr denn je zusammengehörte, denn man betrachtet sich gegenseitig als Behinderung, nicht als Chance, Film und Kunst im Nahverhältnis aufeinander zu beziehen. Man versteht sich nicht und will auch nichts voneinander wissen. Das Problem verhandeln nun Rechtsanwälte und Verwaltungsangestellte. Gelöst werden müsste es aber durch einen Strukturwandel.

Probleme, die weit über den Einzelfall „813“ hinausweisen

Der Filmclub 813, das ist zum Verständnis wichtig, gehört zu den nicht-gewerblich agierenden Kinos in Deutschland. Allerdings sind in diesem Land selbst gewerbliche kaum mehr wirtschaftlich zu betreiben und oft mittelbar von Zuwendungen der öffentlichen Hand abhängig, etwa durch Programmpreise. Die Städte, die sich ihre Theater und Museen wie Kirchtürme leisten, sind in fast keinem Kino mehr mit einer institutionellen Förderung oder gar in Trägerschaft engagiert, so auch in Köln nicht. Der Bundesverband kommunale Filmarbeit vertritt daher eine bunte Mischung aus Spielstätten, bei denen der Anspruch oftmals kaum mehr Wirklichkeit wird und deren Betreiberinnen und Betreiber in den nächsten Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach erhebliche Nachfolgeprobleme haben werden. Und dies bedingt das strukturelle Problem eines Konflikts, der vordergründig von Themen wie Brandschutz, Nutzungsrechten, Zweckentfremdung und anderem handelt.

Zwischen dem Filmclub 813 und dem Kölnischen Kunstverein besteht darin nicht annähernd Waffengleichheit. Der Geschäftsbericht des Kulturamts der Stadt weist für das Jahr 2018 eine Projektförderung für den Filmclub in Höhe von 15.000 Euro und eine institutionelle Förderung für den Kunstverein von 168.500 Euro aus. Der eine wird durchweg von ehrenamtlichen Akteuren getragen, die mit Ach und Krach die Kosten decken, der andere mit mehreren Angestellten, kontrolliert durch einen Vorstand, durch den sich die kölnische Bourgeoisie kostenfrei Zugriff auf das öffentliche Kunstgeschehen der Stadt sichert. Hilmar Hoffmann hatte seinen Vorsitz des Filmmuseums in Frankfurt am Main schon einem millionenschweren Rechtsanwalt wohl in der Hoffnung überlassen, dass aus Mäzenatentum doch noch mehr als Selbstdarstellung erwachsen könne. Der Vorstandsvorsitzende des Kunstvereins ist der Kunsthändler Dr. Dipl.-Kfm. Thomas Waldschmidt, der auf seiner Website den Geist vorgibt: „Wünschen Sie eine Beratung bezüglich eines Kunstwerks, das Sie bereits besitzen oder im Auge haben? Oder haben Sie noch keine konkrete Vorstellung, sondern eher vage Gedanken zum Thema Kunstkauf und Verkauf?“ Weder konkrete noch vage, sondern gar keine Vorstellung von Geschäft, einzig die Erwartung, dass sich eine Großstadt wie Köln, die allein zehn eigene Museen unterhält und noch viele andere Kunstinstitutionen darüber hinaus, sich eine Kinemathek auf Augenhöhe mit der Kunst leisten möge.

Die billigste Lösung

Stattdessen aber hat die Stadt schon vor vielen Jahren eine Kinemathek in gemeinnütziger Trägerschaft herunterkommen lassen, deren Akteure, wie Helmut W. Banz, sich dann dem Filmclub anschlossen, der selbst unter den nicht-gewerblichen Spielstätten im Land ein Exot ist, weil man dort den analogen Film pflegt, der in den meisten Kinos in Deutschland nicht einmal mehr vorführbar ist. Am ehemaligen Spielort der Kinemathek, dem Filmforum des Museums Ludwig, ist zwischenzeitlich eine Art Stagionebetrieb entstanden, den Institutionen wie die Film- und Medienstiftung NRW, die SK Stiftung Kultur, der WDR, die internationale filmschule köln, der film & fernseh produzentenverband nrw oder die Köln Musik für eigene Interessen nutzen, ohne dass daraus etwas von Interesse entstünde, geschweige denn ein Programm. Das war die billigste Lösung.

In Köln hat man Förderung der Filmkultur seit jeher so behandelt, dass alles ein bisschen, aber nichts richtig gemacht wird. In die Verantwortung für den Schaden treten, den man da anrichtete, wollte man freilich nie. Die Kulturbürokratie überließ hier Aufgaben, für die sie selbst hätte Antworten finden müssen, hoffnungslos überforderten gemeinnützigen Strukturen, anders als bei Museen, Philharmonien oder Theatern. Offenbar genügt es, dass Filmkultur irgendwie gemacht wird, nicht aber, wie es sein müsste. Das Versagen von Personen in ehrenamtlichen Strukturen, die teils in prekären Umständen leben und arbeiten, die sich in mühseligen gruppendynamischen Prozessen und der Dynamik einer gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung aufreiben, erachtet man als Problem von Filmkultur, nicht als der Umstände, unter denen sie hergestellt werden muss.

Im Strudel des Kinosterbens

Reinhard Kleber hat die Misere der Kölner Kinosituation schon vor zehn Jahren im Filmdienst benannt: „Seit Jahren schon schlägt sich die Kölner Lokalpolitik nun mit dem Problem des Kinosterbens herum, ohne zu tragfähigen Lösungen zu kommen.“ Besser wurde es nicht. Die Auslastungszahlen der Kinos in Deutschland sind seit Jahren rückläufig und befinden sich nicht erst seit der Corona-Pandemie in freiem Fall. Politik reagiert allenfalls mit Nothilfen, nicht mit Planung. Die Kulturstaatsministerin hat das auslaufende Filmförderungsgesetz mit Diversity-Makeover in eine Ehrenrunde geschickt, während der Filmförderungsanstalt mittlerweile mangels Rückflüssen der Kinowirtschaft schon die Mittel fehlen – zum Beispiel Vorhaben zu fördern, die einen Strukturwandel des Kinos einleiten wollen. Das ist die Quittung dafür, dass man Kino den „Medien“ und nicht der Kultur zuschlug. Nun versucht man, die Geschäftsmodelle einer zombifizierten Kinowirtschaft über eine Krise zu retten, die kein Ende hat. Man müsste aber eine Entscheidung treffen und endlich das, was am Kino Kunst ist und sich noch nie hat am Markt behaupten können, für eine kulturelle Nutzung retten, und den Rest dem Markt überlassen, für den es behauptet, das Angebot zu sein.

Das Modell des Filmclubs stammt aus einer Zeit, in der es in Deutschland noch kaum institutionelle Kultur gab und gerade einmal wenigen dämmerte, dass Kino die wichtigste mediale Praxis des 20. Jahrhunderts ist. Legendär sind die Filmclub-Treffen der 1950er-Jahre, etwa in Bad Ems, die Filmkultur in diesem Land so einigermaßen auf den Stand der Dinge zu bringen versuchten. In Jugoslawien etwa hielten sich die Filmclubs noch bis zum Zusammenbruch der politischen Einheit. Doch selten gelang der Schritt in die institutionelle Förderung. Die nicht-gewerblichen Kinos in Deutschland agieren mit dem Rücken zur Wand. Das fühlt sich von außen nicht wie Lust auf Zukunft, sondern wie Angst vor dem Untergang an: vor den Streamingdiensten, vor der übermächtigen Kunstwelt und so weiter. Dabei müsste jetzt dringend gehandelt werden. Alarmismus ist kein Konzept.

Drei Forderungen für die filmkulturelle Grundversorgung

Erstens müssten Kinematheken in kommunaler Trägerschaft unterhalten werden, zumindest in den Großstädten. Vereine sind mit der Rettung der kulturellen Praxis Kino im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung heillos überfordert.

Zweitens müssten Kinematheken künftig auf dem Niveau von avancierten Kulturbauten realisiert werden, um urbanen Gesellschaften noch ein plausibles Kulturangebot mit Aufenthaltsqualität machen zu können.

Drittens müssten Kinos generell in einem Strukturwandel unterstützt werden, der auch Streamingangebote umfasst, also die Ausweitung des Rollenbilds. Kinos könnten so auch digitale Leinwände anbieten, zum Vorteil aller Beteiligten.

Vom Geschäftsmodell zur kulturellen Praxis

Eine Kinemathek der Zukunft müsste also die mediengeschichtlichen Besonderheit des Kinos paradigmatisch einlösen und zugleich ganz neuartige Aufgaben lösen: ein Publikum über die Qualität der Architektur, der Gastronomie, der Arbeitsmöglichkeiten, der Partizipation erreichen, den Gegensatz zwischen digitaler und analoger Welt, zwischen Rezeption und Produktion nicht antagonistisch verstehen, sondern kreativ, sowie auch ökologisch und technologisch höchsten Ansprüchen genügen. Im gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des Kinos, das in seiner Geschichte immer von gewerblichen Ansprüchen vor sich hergetrieben worden war und dabei grotesken Ausgestaltungen unterlag, ist ein Momentum für seine Neuentdeckung als kulturelle Praxis entstanden. Erst der Prozess der Historisierung des Kinos rückt die Möglichkeit einer geregelten Musealisierung ins Bewusstsein: dass man das Geschäftsmodell also sterben lassen und die kulturelle Praxis zugleich retten kann.

Die mangelnde Akzeptanz von Kinokultur in Deutschland ist auch darin begründet, dass man es niemals geschafft hat, Kino im öffentlichen Raum von gewerblichen Interessen und Funktionszusammenhängen anderer Kultursparten freizustellen. Man hat Kinos entweder unter Investorenarchitektur vergraben oder in die Keller von Museen verbannt. Kino wurde im Nachkriegsdeutschland niemals als Kulturbau betrachtet, wie das für ein Museum, eine Philharmonie oder ein Theater zur Regel wurde. Daher konnte man auch das Bürgertum niemals dafür interessieren. Zudem hat man einen solchen Kulturbau niemals als einen Beitrag zur urbanen Entwicklung oder als einen intelligenten Beitrag zu nachhaltiger Klimaarchitektur verstanden.

Kinos als Bestandteil zukunftsfähiger urbaner Kultur

Die Aufgabe besteht nun darin, Kinokultur wieder als einen sozialen Raum freizulegen. Kino müsste sich gesellschaftlichen Veränderungen der Arbeits- und Freizeitgesellschaft anpassen (Kino on Demand, Video on Demand usw.), Co-Working-Spaces sowie die Verbindung zu den filmverwandten Künsten in geeigneten räumlichen Verhältnissen neu entdecken (Performance, Expanded Cinema usw.).

Kurz, man müsste Kino als Kulturbau ästhetisch, architektonisch, sozial, technologisch und städteplanerisch neu denken und damit auch als einen lebendigen Bestandteil urbaner Kultur. Eine Kinemathek der Zukunft könnte wesentlich preiswerter und nachhaltiger sein als andere Kulturbauten, indem sie individuelle Skalierungen und Nutzungen zulässt. In Zürich hat man mit der Tonhalle Maag einen akustisch großartigen Saal entworfen, der ein Hundertstel der Elbphilharmonie kostete, in Blaibach ein Opernhaus, das ein Viertel des Zürcher Baus kostete.

Hingegen behandeln die Lösung, die zuletzt etwa für das Cinema Quadrat in Mannheim gefunden wurde, und die Lösungen, die derzeit für die Übersiedlung des Kinos am Karlstorplatz in Heidelberg oder das Filmhaus in Stuttgart im Gespräch sind, Kino weiter als Abspielorte für Filme. Kino hat den Anschluss an progressive Kulturbauten längst versäumt. Kino als kulturelle Praxis müsste aber durch architektonische und städteplanerische Impulse auch sozial überzeugen.



Lars Henrik Gass ist Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, Mitherausgeber der Bände „Provokation der Wirklichkeit. Das Oberhausener Manifest und die Folgen“ (2012) und „after youtube. Gespräche, Portraits, Texte zum Musikvideo nach dem Internet“ (2018) sowie Autor der Bücher „Das ortlose Kino. Über Marguerite Duras“ (2001), „Film und Kunst nach dem Kino“ (2012/2017, auf Englisch 2019) und „Filmgeschichte als Kinogeschichte. Eine kleine Theorie des Kinos“ (2019). Texte auf filmdienst.de:

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