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Filmklassiker: "La dolce vita"

Federico Fellinis Klassiker "La dolce vita" kommt am 14.7.2022 zurück ins Kino.

Veröffentlicht am
08. Mai 2023
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Vor rund 62 Jahren sorgte Federico Fellinis „La dolce vita“ („Das süße Leben“) für einen Skandal. Am 14.7.2022 kommt der Film über einen Klatschreporter und das Leben und Treiben der römischen High-Society Ende der 1950er-Jahre zurück ins Kino. Über ein zeitloses Panorama aus Rausch und Nüchternheit und das Misslingen von Verständigung.


Dieses Leben schmeckt nach gar nichts. Man sieht es daran, wie der Mittvierziger seine schmalen Lippen ans Wasserglas führt und daran nippt, während sich seine Freunde den Burgunder einschenken lassen. Sein Verzicht mag gesund und vernünftig sein, aber Lebensfreude sieht anders aus.

Es ist wohl kein Zufall, dass Thomas Vinterbergs sanfte Rehabilitation des Alkoholgenusses „Der Rausch“ mit Mads Mikkelsen in der Hauptrolle im Jahr 2020 der große Gewinner beim Europäischen Filmpreis war und 2021 mit dem „Oscar“ für den besten internationalen Film ausgezeichnet wurde. Sein Club der dichten Lehrer, der sich mit einem stetigen, zunächst niedrigen Promillegehalt in eine neue Lebens- und Schaffensfreude trinkt, schien mit seiner weder eindeutigen Verherrlichung noch simplen Verdammung des Rauschs einen Nerv zu treffen, eine sehr gegenwärtige Sehnsucht: die Sehnsucht nach einer Vitalität, die ahnt, dass sie mehr und anderes braucht als Alkohol.


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„Eat Spaghetti to Forgetti Your Regretti“

Am 14.7.2022 kommt der Klassiker nun in 4K-Restaurierung zurück ins Kino; außerdem ist schon 2021 bei StudioCanal eine Sonderedition der restaurierten Fassung von Federico Fellinis „La dolce vita“ („Das süße Leben“) erschienen. Schließlich gibt es genügend Anlässe, um Fellinis Klassiker von 1960 schamlos ahistorisch nach heutigen Befindlichkeiten und deren Analysen abzusuchen. 2021 diagnostizierte die „FAZ“ eine „neue deutsche Sehnsucht nach Dolce Vita“, ein Revival der guten alte „Italiensehnsucht“: Läden, die italienische Produkte „kuratieren“, so der Artikel, erführen enormen Zulauf, wobei gleichzeitig die „Schreckensbilder“ der Corona-Pandemie, die 2020 Italien besonders hart traf, noch präsent seien. Eine „Bipolarität“, wie sie schon Fellinis Film präge, und dagegen helfe wiederum nur die „Leichtigkeit“ italienischer Lebensart: „Eat Spaghetti to Forgetti Your Regretti“, so steht es auf einem sich derzeit gut verkaufenden Jutebeutel.

Neu erschienen: Die Special edition des Klassikers ( © StudioCanal)
Die Special Edition des Klassikers ( © StudioCanal)

Was den Protagonisten von „Der Rausch“ fehlt und was Fellini im Übermaß zeigt, sind Ekstase und Gemeinschaft, Fluidität und Entgrenzung, mit denen sich das erschöpfte Ich vom Nur-so-und-nicht-anders-Sein erholen will. Wieviel Rausch, wieviel sprichwörtlich gewordenes „dolce vita“ braucht es also, um einigermaßen froh zu bleiben in Zeiten von Identitäts-Kasperei, Sicherheitsdenken, Selbstoptimierung und dem Diktat marktkonformer Lebensläufe? Ist Glück nur für den Preis von Oberflächlichkeit oder Selbstzerstörung zu haben? War die Filmgeschichte bei der Beantwortung dieser Frage schon einmal weiter?


Festumzug des modernen Lebens

Martin Scorsese beschrieb in einem Essay für das „Harper’s Magazine, wie sehr sich das Werk seines berühmten Kollegen Federico Fellini der eindeutigen Zuweisung einer bestimmten Zeit entzieht: Schon „La Strada“ (1954) spiele zwar offensichtlich im Nachkriegs-Italien, entfalte sich aber „wie eine mittelalterliche Ballade, oder etwas noch weiter Zurückliegendes, eine Emanation aus der Vorzeit“. Dasselbe gelte auch für „La dolce vita“, „dies aber als Panorama, als Festumzug des modernen Lebens und des spirituellen Kontaktverlusts“.

Nach seinem Erscheinen war der in Rom spielende Film über den halbresignierten Klatschreporter Marcello (Marcello Mastroianni), der seine höheren Schriftsteller-Ambitionen längst begraben hat und von Nachtclub zu Party zu Nachtclub verschiedenen Frauen folgt (oder sie flieht), ein Skandal. Er beflügele eine Lüsternheit, die den Orgien des Tiberius gleichkäme, hieß es 1960 in konservativen italienischen Zeitungen. Fellini zeige „drei Stunden lang Eindeutigkeiten“. Der Regisseur wurde öffentlich bespuckt, er selbst schilderte, wie ihn eine Frau verfolgte, ihm an den Kragen ging und ihm Selbstmord empfahl. Der wohl berühmteste italienische Film aller Zeiten spaltete die italienische Öffentlichkeit, gewann in Cannes aber die „Goldene Palme“ und war ein Kassenerfolg. Zweifach für den „Oscar“ nominiert, wurde der Film 1962 mit einem „Oscar“ für die besten Kostüme ausgezeichnet.


Skandalös! Marcello Mastroianni & Anita Ekberg  (© StudioCanal)
Skandalös! Marcello Mastroianni & Anita Ekberg (© StudioCanal)

Leben außerhalb der Zeit

Schick und gleißend scharf erscheint der Film nun in der restaurierten 4k-Fassung. Diese wurde bereits 2010 durch die Cineteca di Bologna – Laboratoria L’immagine Ritrovata mit Unterstützung Ennio Guarnieris, dem Kamera-Assistenten Otello Martellis, vom Original-Negativ und einem Original-Positiv vorgenommen und feierte 2011 auf dem Filmfestival in Bologna Premiere. In der Heimkino-Sonderedition brachte StudioCanal diese gar nicht so eindeutigen Eindeutigkeiten in Schwarz-weiß samt 83-minütigem Dokumentarfilm als Bonusmaterial heraus: „The Truth About La Dolce Vita“ von Guiseppe Pedersoli versucht im Titel zwar so etwas wie eine Sensation aufzurufen. Doch die zuvor unveröffentlichten Briefwechsel und nachgestellten Szenen beleuchten eher brav bisher nicht geläufige Details über die Produktionsgeschichte. „Die Wahrheit“ über „La dolce vita“? Da bleibt weiterhin nichts anderes übrig, als den Film anzusehen, immer wieder und noch einmal, wissend, dass „die Wahrheit“ sich entzieht.

Man müsste „so sehr lieben können, um außerhalb der Zeit zu leben. Losgelöst”. Vielleicht gelingt dem Film ja genau das? Diesen Satz spricht Steiner (Alain Cuny), der intellektuelle väterliche Freund des Protagonisten. Er hadert mit der möglichen Apokalypse, mit dem angebrochenen Atomzeitalter: Ein Knopfdruck genüge, um die Welt „in ein Chaos zu verwandeln“. Steiners Credo lautet deshalb: „Man sollte fern aller Leidenschaft, jenseits aller Gefühle leben, in jener Harmonie, wie sie nur ein vollendetes Kunstwerk besitzt, in einer solchen verzauberten Ordnung“. Ist das ein Plädoyer für den Rückzug ins Geistige, für Kunst als innere Emigration? Kann das die Lösung sein?


Die „tiefe, nicht zu verleugnende Süße“ des Lebens

Fellini, der es verabscheute, wenn Künstler ihr eigenes Werk erklärten, bestand jedoch immer wieder beharrlich auf dem Hinweis, dass hinter dem Titel keine moralisierende oder anklagende Absicht stecke: „Er sollte ganz einfach bedeuten, dass das Leben trotz allem eine tiefe, nicht zu verleugnende Süße hat“, wie er im Gespräch mit Giovanni Grazzini sagte. Könnte es sein, dass diese freundliche Lesart heute leichter fällt als 1960? Zumindest legen das ein paar Besprechungen aus jüngster Zeit nahe.

„Es gibt keinen Hass in diesem Film“, schrieb 2012 Arno Widmann in der „Frankfurter Rundschau“. Der Film zeige „so etwas wie Glück“ und sei „eben kein Angriff auf die Gesellschaftsordnung. Es ist der Versuch einer Meditation über das Leben. Ein Versuch, der sich vor Lächerlichkeit nicht scheut, der keine Angst davor hat, dumm zu sein“. Fellini sei „ein Menschenzeichner aus dem Gefühl der Sympathie“, würdigte auch die Münchner Abendzeitung 2020 Regisseur und Werk. Das erinnert doch stark an den Ton, in dem auch Vinterbergs „Der Rausch“ besprochen wurde.


Marcello Mastroianni mit Anouk Aimee (© StudioCanal)
Marcello Mastroianni mit Anouk Aimee (© StudioCanal)

Damals wie heute: mittelalter weißer Mann als Nabel der (kriselnden) Welt. Nun gut. Dessen Leben konnte ja schon immer mal wieder sein Aroma verlieren, auch ohne Covid-Infektion. Um keinen Geschmack mehr am Dasein zu finden, wie einst der gelehrte Faust oder Kafkas Hungerkünstler, dazu brauchte es stets nur eine halbwegs stabile Midlife-Crisis, eine berufliche Sinnkrise, Beziehungsnöte oder von allem etwas. Und ein ablenkungsanfälliges, fragmentiertes Weltverhältnis, assoziativ dahinfließend wie im Traum, damit man auch ja keinen Fuß mehr auf den schwankenden Boden kriegt.

„La dolce vita“ fächert diesen Zustand sowohl thematisch als auch formal auf und wirkt dabei auch heute noch bestürzend elegant und erstaunlich unparteiisch, egal ob es um fließende Geschlechtsidentitäten und Liebesbande geht, künstlerische Selbstverwirklichung und Moral, Freitod und Freiheit, Alter und Jugend, Gott und Tod, Aufklärung und Geisterglauben, soziales Außenseitertum und wie es Arme wie Reiche betrifft.


„Die Zivilisation, wohin führt sie überhaupt?“

Fellini zeigt zum Beispiel, dass kolonialistisch-sexistische Altherren-Ansichten über „die Orientalin“ schon damals peinlich sein konnten. Auf einer Party von Marcellos Freund Steiner verkündet ein älterer Mann, von dem es heißt, er habe schon viele „beachtliche Bücher geschrieben“: „Die einzige echte Frau ist die Orientalin!“ Sie sei „Geliebte und Tochter zugleich“ und „kauert wie eine kleine verliebte Tigerin zu den Füßen des Mannes“. Und während neben ihm tatsächlich eine orientalisch gewandete Musikerin auf dem Boden hockt und (vermutlich) kein Wort versteht, schwadroniert er: Für die Orientalin sei es „eine Lust, sich körperlich und geistig beherrschen zu lassen“, sie sei „von der Zivilisation noch nicht verdorben“.

Es gipfelt in der rhetorischen Frage an zwei Künstlerinnen mit großen Nasen und progressiven Ansichten: „Die Zivilisation, wohin führt sie überhaupt? Sie führt dazu, dass Ihr nicht mehr wisst, was Liebe ist!“ Eine der beiden angegriffenen Frauen entgegnet trocken: Seit Jahren schwärme er vom Orient, warum bleibe er nicht endlich dort? Damit stempelt sie ihn in einer schönen Retourkutsche selbst zum kulturell Anderen, das nicht (mehr) ins moderne Europa passt.


Der Ur-Paparazzo

Großes Thema von „La dolce vita“ ist die Ambivalenz eines Verlangens von Sichtbarkeit und der Sehnsucht nach Unsichtbarkeit: „Ich würde mich schon gern verstecken, aber mir gelingt’s nicht“, sagt die stets in Schwarz gekleidete, auch nachts Sonnenbrille tragende, traurig-gelangweilte Millionärstochter Maddalena (Anouk Aimeé). Ständig wird sie wie ein Filmstar verfolgt von Marcellos schmierigem Fotografen-Kollegen Paparazzo (Walter Santesso), der seiner Zunft erst den Namen gab. Maddalena ist so etwas wie die Schwester im Geiste des Melancholikers Marcello. Ihr fehle der „Schuss Vitalität“, diagnostiziert sie selbst, um mit dem „normalen Leben“ fertig zu werden.

Was folgt, ist eine Art parasitärer Elends-Porno zur Stimulierung der eigenen Lebenslust: Maddalena lädt eine Prosituierte zu sich und Marcello ins Auto ein und fährt sie ans andere Ende der Stadt, nach Hause. Im armseligen, überschwemmten Kellerloch der Fremden verlebt das Paar eine Liebesnacht, während die Bewohnerin in der Küche achselzuckend in der Kaffeetasse rührt. Maddalena, die sich einmal „unbewohnt“ nennt, war (wie es im Booklet heißt) womöglich das Vorbild für die bis heute unsterbliche Holly Golightly (Audrey Hepburn) in „Frühstück bei Tiffany“, als (vermeintlich) beziehungsunfähiger urbaner Mensch der Gegenwart.

Die ständige Sichtbarkeit ist in „La dolce vita“ noch das Problem der Schönen und Reichen, sickert aber auch schon zum einfachen Volk herunter und traktiert die Sphäre des Glaubens: Nach einer angeblichen Marienerscheinung fällt die Presse im Ort ein und verlangt von den Dorfbewohnern frömmelnde Posen vor malerischem Hintergrund - was diese gegen Zigaretten bereitwillig tun. Heute sind alle zu ihrem eigenen Paparazzo geworden. Halbwegs frei ist nur, wer nicht ständig alles von sich selbst postet.


madonna des Medienzeitalters: Anita Ekberg in "La dolce vita" (© StudioCanal)
Madonna des Medienzeitalters: Anita Ekberg in "La dolce vita" (© StudioCanal)


Das Höchste: weiblich

Oder hinter einem Überangebot verschwindet. Wie Filmstar Sylvia (Anita Ekberg): Als sie am Flughafen landet, brüllen die Fotografen sie an: „Warum so verhüllt?“, „Komm im Bikini!“, ein Radioreporter, zu Marcello: „Na, Marcello? Ein schönes Stück Fleisch!“ Sylvias Strategie: Sie bombardiert die Meute mit Marilyn-Monroe-Klischees und -Floskeln, hinter denen sich aber, und das erzählt Fellini auf präzise traumwandlerische Weise mit, womöglich doch echte Göttlichkeit verbirgt: Aus der puppenhaften Diva, der Trivial-Version der Muttergottes, wird kurz darauf, in einer schwindelerregenden Kamerafahrt, die wie mit übermenschlichen Energien ausgestattete („sie hat einen eingebauten Fahrstuhl“) Erstürmerin der Petersdom-Kuppel.

Die fotografierenden Männer kommen nicht hinterher - nur Marcello schafft es, ihr zu folgen. Sie, das sagt der Film mit all seinen Mitteln, ist die Höchste. „Wer ist die Mutter der Sonne?“ habe seine Tochter einmal gefragt, sagt später Steiner. Darum geht es ständig: um das Höchste (und auch Unterste), und das Höchste ist in „La dolce vita“ weiblich. Marcello bleibt da nur ein Stammeln, wenn er in Sylvia „alle Frauen“ erkennt, sprich: die Heilige und die Hure. Aber wenigstens bleibt er höflich.

„La dolce vita“ wurde und wird immer wieder auch als existenzialistisches Werk interpretiert. Homo sapiens, das ist wörtlich auch „der schmeckende“. Anders gesagt: Wer Geschmack am Leben findet, der (oder die) versteht es. Aufs Banalste umgesetzt wird dieser Akt schmeckenden Erkennens, als der soeben gelandeten Sylvia als PR-Gag für die Presse eine eilig herbeigeholte Pizza in den Mund geschoben wird. Doch das Abbeißen bleibt Pose, weder kaut noch schluckt sie den seltsam verschwundenen Bissen, als handle es sich um eine Hostien-Verabreichungs-Travestie; die Verständlichkeit bleibt auf der Strecke.


Alles kippt immerzu ineinander

Misslingende Verständigungen stehen auch in den berühmten ersten und letzten Bildern des Films im Mittelpunkt: Zu Beginn gelingt es Marcello nicht, sich mit den halbnackten Frauen auf einem Hausdach zu verständigen, weil der Hubschrauber, in dem er sitzt, alles übertönt; am Ende, als die junge, engelsgleiche Paola (Valeria Ciangottini) ihm am Ufer des Meeres etwas zuruft, versteht er ebenfalls nichts, diesmal rauscht das Meer zu laut.


Valeria Ciangottini (© StudioCanal)
Valeria Ciangottini (© StudioCanal)

Dieser Film ist und handelt von Chaos und Ordnung: Alles kippt immerzu ineinander, Oben und Unten, Hier und Drüben. Mann und Frau. Bis keiner mehr weiß, „wo vorne und hinten ist“, wie am Ende ein schwuler Partygast sagt, als am Morgen nach einer Scheidungsparty ein riesiger Rochen aus den Tiefen des Meeres gezogen wird. Das tote Auge des Fisches starrt offen in die Kamera. Das Höchste, wo ist es jetzt? Winkt es, in Gestalt von Paolas reinem Engelsgesicht, von einem entfernten Ufer, und Marcello erkennt es nicht?

Wer vom Rausch spricht, kommt an Nüchternheit und Klarheit nicht vorbei. Als sich Steiner und Marcello über ein Stillleben Giorgio Morandis unterhalten, liefert Steiner mit dessen Charakterisierung auch ein Stück Fellini-Autopoesie: Bei Morandi sei „alles in ein Traumlicht getaucht“, dabei äußerst diszipliniert, fast streng. Bei ihm gebe es „keine nebulose Verschwommenheit“, nichts bei ihm sei zufällig. Wie bei Fellini. „Nüchtern“ kommt vom lateinischen Wort für „nächtlich“ („nocturnus“) und bezeichnete einst die Zeit am frühen Morgen, wenn die Nacht zum Tag sich wendet und das Geträumte manchmal noch halb vernünftig wirkt. Solche Morgen gibt es viele in „La dolce vita“, wie überhaupt bei Fellini, doch sie kommen plötzlich. Da gibt es keine Dämmerung. Auf einen Schlag ist es Tag.


„Wir alle machen es ganz falsch!“

In so einen Tages-Einbruch mündet auch die ikonischste Szene des Films, das Bad im Trevi-Brunnen. Zunächst, da herrscht noch finsterste Nacht, folgt Marcello dem Lockruf Sylvias (nicht ohne sich vorher die Schuhe auszuziehen), dem er eine unausgesprochene höhere Botschaft unterlegt. Wie unter Hypnose murmelt er vor sich hin: „Ja, sie hat recht, ich mache es ganz falsch. Wir alle machen es ganz falsch!“

Doch das Rauschen des Wassers und die Nacht verwandeln sich kurz darauf in etwas, das Fellini oft die „innere Realität“ nannte, und in diese innere Nacht und dieses innere Rauschen kann Marcello Sylvia nicht folgen: Sie verharrt - nach einem geflüsterten „listen!“ - auch dann noch mit geschlossenen Augen, als der Brunnen plötzlich abgeschaltet wird. In der Totalen sieht man auf einmal die Tageshelle, und Marcello, wieder klar im Kopf, führt Sylvia wie eine Blinde hinaus aus dem Brunnen. Ein jähes Bild der Nüchternheit, vom Rausch der Freiheit in eine Freiheit vom Rausch(en). Die weder zu bedauern noch zu feiern ist. Sie folgt schlichtweg auf die Ekstase, wie der Tag auf die Nacht.

Jetzt aber. Einmal versucht es Marcello noch mit der ernsthaften Schriftstellerei. Wie ein digitaler Bohèmien aus dem frühen 21. Jahrhundert sitzt er in einer Taverne an einer Schreibmaschine, als einziger Gast, und versucht zu schreiben. Im Unterschied zu heute aber lenkt nicht das Schreibgerät von der Umwelt ab, sondern umgekehrt die Umgebung vom Schreiben; die Welt behauptet noch nicht, in einem kleinen technischen Kasten zu stecken, sondern wuselt da draußen, im Dreidimensionalen.

Wie um den Möchtegern-Literaten zu ärgern, malt das Mittagslicht um Marcello herum überall Schatten-Zeilen durch das Dach aus Schilfmatten. Aus der Musikbox läuft „Patricia“ von Perez Prado auf voller Lautstärke. Marcello bittet die junge Kellnerin Paola, auszuschalten. Das tut sie. Dann beginnt sie, das Lied zu singen. Er verzweifelt, bittet sie, mit dem „Zirpen“ aufzuhören. Sie kontert mit der Frage, ob er zu Mittag essen will, „das Essen hier ist sehr gut“. Er kapituliert. Betrachtet ihr Profil und findet, es sei wie die Engelsdarstellungen in umbrischen Kirchen. Gepfiffen sei auf die Kunstausübung, es leben die Schönheit, das Essen und der Geschmack. „Schreiben Sie nicht mehr?“ - „Nein.“ - „Dann kann ich die Musik wieder anmachen?“ - „Ja.“ Paolas kleiner Gehilfe fragt, ob das Papier in den Müll kann. Ja, bitte, hier. Das Leben spielt zu laute Musik, es singt, es plappert, es ruft, es rauscht. Es gibt vielleicht auch gar nicht so viel zu verstehen. Es ist bitter. Es ist süß.

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