© imago images/Cinema Publishers Collection (aus "La dolce vita")

Die Geschichte des italienischen Films

Ein Land im Spiegel seiner Filmgeschichte. Irmbert Schenk über die italienische Kinematografie

Veröffentlicht am
06. Februar 2021
Diskussion

Eine umfassende deutschsprachige Geschichte des italienischen Films mit seinen bedeutenden Beiträgen zur Weltkinematographie fehlte bislang. Ansätze dazu beschränkten sich auf Buchbeiträge, Zeitschriften oder außerhalb von Fachkreisen nur schwer zugängliche Publikationen. Irmbert Schenk, pensionierter Professor für Medienwissenschaft an der Uni Bremen, hat nun eine erste substanzielle Darstellung der 125-jährigen italienischen Kinematographie von der Stummfilmzeit bis zur Gegenwart vorgelegt.


Unterteilt ist das Buch in sieben Kapitel, die sich an wegweisenden Meilensteinen, Filmemacherinnen und Filmemachern orientieren. Die behandelten Werke und Personen werden - zur besseren Einordnung für einen größeren Leserkreis - mit kurzen gesellschaftlichen und wirtschafts-politischen Rahmendaten in den zeitgeschichtlichen Kontext eingebettet. Als ausgewiesener Spezialist greift der Autor auf diverse, über Jahrzehnte von ihm vorgelegte Studien, Vorlesungen und Aufsätze zurück, reichert sie mit Ergänzungen, Aktualisierungen an. Stilistisch orientiert er sich in seiner konzentrierten Darstellung an Vorbildern wie den „Geschichte des Films“-Überblicken von Jerzy Toeplitz oder von Gregor/Patalas. Auf ein breites Lesepublikum zielend, verzichtet die Studie erfreulicherweise auf eine (pseudo-)wissenschaftliche Diktion, erklärt Fachbegriffe verständlich und eignet sich als Einführung wie als Anregung für die weitere Beschäftigung mit den zitierten Filmen. Ein Filmregister fehlt, doch ein Personenverzeichnis rundet den lesenswerten Band ab. Störend dagegen: etliche Schreibfehler und die sparsamen, meist italienischen Literaturhinweise.


Die verengten Perspektiven der Filmgeschichtsschreibung

Aussagekräftig ist bereits Irmbert Schenks Transparenz zur eigenen Standortbestimmung. Demnach sollte generell eine „quantitative Relativierung der Filmgeschichtsschreibung“ in die Betrachtung einfließen. „Es spricht einiges dafür, dass von allen produzierten Filmen eines Landes nur etwa 10% als ästhetisch beachtenswerter (sic) in Filmkritik und Filmpreissystem und letztlich auch in die Filmgeschichtsschreibung eingehen, während die viel zahlreicheren restlichen Filme meistenteils unerwähnt bleiben.“ Über diese eigentlich selbstverständliche, häufig aber vernachlässigte Determinante formuliert der Verfasser den Zielkonflikt: Der Qualitätsfilm, wenige internationale Erfolge, das Autorenkino dominieren; dem (kommerziellen) Genrekino mit reinen Unterhaltungsabsichten wird auch in seiner Darstellung nur selten Aufmerksamkeit eingeräumt.

Als Hauptkoordinaten der Entdeckungsreise durch den italienischen Filmkosmos fungieren die ästhetisch ergiebigsten Stationen: die Goldene Ära des Stummfilms bis Ende des Ersten Weltkrieges, der Neorealismus, das Autorenkino um 1960 und das Neue italienische Kino bis zur Gegenwart. Die Anfänge der Spielfilmproduktion kennzeichnen historische Kostümfilme mit literarischen Anleihen und mythologischen Bezügen. Schenks Auswahl reicht von „Die letzten Tage von Pompej“ (1908) über „L’Inferno“ nach Dante und „Quo Vadis“ bis zum ausführlich vorgestellten Megahit „Cabiria“. In dem Ideologie-Vehikel kulminieren für ihn der Übergang von theatralischer zu filmspezifischer Dramaturgie, die bewusste Komposition von Einstellungsgrößen, die Tiefenschichtung mit ihrer Raumperspektive und Einflüsse auf das amerikanische Kino (Griffith u.a.).

"Cabiria" (© imago images/Prod.DB)
"Cabiria" (© imago images/Prod.DB)

Neben dem frühen Genrekino („Maciste“-Filme) identifiziert der Autor den Diven-Kult als Ursache für den Welterfolg italienischer Produktionen. Schauspielerinnen wie Francesa Bertini oder Lyda Borelli generieren Nachfrage für hochwertige, attraktive Dekadenz-Dramen. Leider erschöpft sich dieser Aspekt in deskriptiver Aufzählung, ohne die Hintergründe des Starsystems zu beleuchten. Kapitel 1 mit der Konzentration auf wenige Großfilme liest sich gelegentlich unelegant. Eine Einschätzung zur Masse der Durchschnittsproduktionen, die freilich selten erhalten und ästhetisch weniger ergiebig sind, ergäbe einen wertvollen Kontrast.

Kapitel 2 behandelt die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Faschismus. Fehlende Innovation und ökonomische Schwäche lösen zunächst einen qualitativen wie quantitativen Niedergang des italienischen Films aus. Um 1930 sorgen realistische Arbeiten von Alessandro Blasetti und Mario Camerini sowie der Futurismus als Vorahnung und „Propaganda“ des Faschismus für einen Neuanfang. Großmachtfantasien antiker Tradition und die Modernisierung des stark agrarisch bestimmten Landes mit seinem enormen Nord-/Südgefälle beflügeln eine neue Kinopolitik. Es sind vermehrt Komödien (mit Vittorio de Sica als Star), „unpolitische“ Unterhaltungsfilme, dann eine Steigerung der Produktion mit politischer Ausrichtung zu registrieren. Schenk diagnostiziert auch den Rückzug auf unverdächtige Klassiker-Adaptionen, wobei hollywoodeske Stoffe der „telefoni bianchi“-Ära mehr als reinen Eskapismus oder kalligraphische Ausrichtung darstellen.

Kapital 3 stellt den legendären Neorealismus und seine „Eroberung der Wirklichkeit“ vor. Die Siegfried Kracauers Realismus-These entlehnte Bezeichnung versteht sich laut Roberto Rossellini als „moralische Haltung, mehr als ein Stil“. Die neorealistische „Schule“ wendet sich gegen den Faschismus, liebäugelt, zeithistorisch bedingt, mit sozialistisch-kommunistischen Ideen und lehnt angesichts der Übermacht amerikanischer Kinofilme kapitalistische Marktgesetze ab. Schlüssig skizziert Schenk den Neuansatz des Dreigestirns Rossellini, De Sica und Visconti und weist darauf hin, dass deren Schlüsselwerke nur einen ganz geringen Teil der Produktion nach 1945 repräsentieren, Publikum und Kritik oft spät auf diese künstlerische Innovation reagierten.

Meisterwek von Luchino Visconti: "Der Leopard" (© Centfox)
Meisterwek von Luchino Visconti: "Der Leopard" (© Centfox)

In Kapitel 4 stehen die 1950er Jahre, die gesellschaftlich-ökonomische Situation, die kommerzielle Ausrichtung der Filmindustrie, die Zensur, die Erfolgskomödien des sogenannten „Rosa-Neorealismus“ im Zentrum. Eine Verankerung kleinbürgerlicher Geschichten aus der Commedia all’italiana sind etwa bei Luigi Comencini, Dino Risi oder Mario Monicelli, in der starken Volkstheatertradition (Totò) und einer Renaissance der Monumentalfilme auszumachen. Die Nachkriegsjahre begünstigten auch die Vorläufer der italienischen Neuen Welle: Federico Fellini oder den vom Autor als „Chronist der Krankheit der Gefühle“ gefeierten Michelangelo Antonioni. Dessen Aufschrei aus der existenzialistischen Ruhelosigkeit des modernen Menschen in Landschaften tiefer Einsamkeit findet man bereits in den metaphysischen Bildern Giorgio de Chiricos.

Das neue Goldene Zeitalter des italienischen Films um 1960 lobt Schenk zu Recht als Meilenstein: „Das süße Leben“, „Die mit der Liebe spielen“ und „Rocco und seine Brüder“ erobern einen Spitzenplatz in der internationalen Kinematographie. Das Wirtschaftswunder, die Transformation zur Industriegesellschaft, das in den Alltag eindringende Fernsehen, die Politik der Democrazia Cristiana, der Studentenprotest und die Arbeitskämpfe, ein schwacher Staat - sie dienen als Triebmittel des italienischen Autorenfilms, regen Regisseure wie Pasolini und Bertolucci zur Vergangenheitsbewältigung an. Allerdings fällt der Hinweis auf das handwerklich-künstlerische Genrekino (mit Bud Spencer u. a.) zu kurz aus, um eine „andere“ Filmgeschichte jenseits der akklamierten Autorenfilmer wenigstens ansatzweise zu würdigen.

"Teorema" von Pier Paolo Pasolini (© Die Lupe)
"Teorema" von Pier Paolo Pasolini (© Die Lupe)

Die 1970er Jahre werden, abgeleitet vom Schaffen des Trios Fellini/Antonioni/Visconti, als „existenzielle Befindlichkeit“ der Gegenwart klassifiziert, nur weniger melancholisch oder resignativ in Bezug auf die Vergangenheit. Bertoluccis männliche Perspektive (im Skandal-Opus „Der letzte Tango in Paris“) lädt sich mit psychoanalytischer Interpretation auf, unternimmt in „1900“ den Versuch, die Klassenkämpfe Italiens aufzuarbeiten. Francesco Rosisteht für ein realistisches, gesellschaftskritisches Kino, das Antifaschismus, Mafiastrukturen und süditalienische Rückständigkeit thematisiert. Rudimentärer fällt Schenks Blick auf die Taviani-Brüder oder die Regisseurinnen Lina Wertmüller und Liliana Cavani aus. Im Genrekino diagnostiziert er anhand von Ettore Scola und Mario Monicelli den Abschied von der Commedia all’italiana, die Hinwendung zur Alltäglichkeit, zur Satire; während bei Dino Risi alles Komische erlahmt.

Film und Kino schlittern 1980 in ein Krisenjahrzehnt: TV, Kommerzproduktionen, Einzelkämpfer beherrschen die Hauptbühne. Dazwischen verlaufen Bertoluccis ambivalente internationale Karriere („Der letzte Kaiser“), Marco Bellocchiosbürgerliche Charakterstudien, die Flucht der Tavianis in einen magischen Realismus, Marco Ferreris Sonderweg in Erotik und Ironie, Pupi Avatis Genre-Vielseitigkeit und enorme Produktivität. Eine Dekade später vollzieht sich dann die Abdankung der Altmeister. Die bleiernen Jahre und der Verlust von Visionen, Kommunikations- und Liebesunfähigkeit, Pessimismus und eine Paralyse der Gesellschaft – sie bilden die schmale Basis für das Neue italienische Kino.

"Der letzte Kaiser" (© StudioCanal)
"Der letzte Kaiser" (© StudioCanal)

Die „erstaunliche Qualität und Quantität“ des neuen italienischen Kinos seit 1990 mit seiner Konzentration auf das Individuelle und Private feiert Schenk euphorisch. „Ohne weitere Neigung zur kollektiven Utopie in Anbetracht der Widersprüche der Gegenwart und Perspektivlosigkeit für die Zukunft“, führt das zu einem „vielleicht minimalistischen Realismus“, zu „bewundernswerten Leistungen dieses neuen italienischen Kinos, das so seiner Funktion eines kollektiven medialen Gedächtnisses der neueren italienischen Geschichte doch weitgehend gerecht wird.“ Zum wichtigsten Vertreter der nachfolgenden Generation wird Nanni Moretti – auch aufgrund seiner filmpolitisch-wirtschaftlichen Sonderstellung, wie der Autor meint. Er widmet den moralischen Erzählungen, der Gesellschafts- und Medienkritik des narzisstischen Chronisten des italienischen Bewusstseins eine umfassende Darstellung. Ob man aber von „weitgehend unbekannten Initiativen“ des Südtirolers sprechen kann, sei angesichts der reichhaltigen deutschsprachigen Berichterstattung dahingestellt.

Demgegenüber werden das stille Gefühlskino eines Gianni Amelio, die Filmemacherinnen Francesca Archibugi und Cristina Comencini, oder etwa Daniele Luchetti kürzer gewürdigt. Ihnen fehle die Vision, eine gesellschaftliche Aufbruchsperspektive. Nicht viel besser kommen der neue soziale Realismus von Marco Risi, die Verlierertypen Carlo Mazzacuratis oder Gabriele Salvatores weg. Dank seines internationalen Renommees wird Giuseppe Tornatore nach dem späten Erfolg von „Cinema Paradiso“ als Kinomagie-Lieferant eingeordnet, Silvio Soldini mit dem Wohlfühl-Erfolg „Brot und Tulpen“ dagegen unter Wert berücksichtigt. Man sieht, so das Fazit des Autors über das neue italienische Kino, „dass es keine Schule, keine zusammenhängende Bewegung mehr gibt, dafür viele unterschiedliche, individuell ausgebildete Erzählthemen und -stile“. Es sei „auch eine gemeinsame Bilder- und Vorstellungswelt verloren gegangen. Das Kino ist nicht mehr wie in den 1950er- und 1960er Jahren zentraler medialer Seismograph des Lebensgefühls der Menschen (und schafft auch keine eigenständige Öffentlichkeit mehr).“

Die aus der Volkstheater-Tradition stammende Sonderform der italienischen Komödie tradieren Massimo Troisi und Roberto Benigni, der neben Moretti wichtigste Filmemacher dieser Generation, dessen Frühwerk in Deutschland ohne Resonanz blieb. Benigni liegt Schenk besonders am Herzen, widmete er doch bereits seinem Erfolgsfilm „Das Leben ist schön“ im 2014 (ebenfalls im Schüren Verlag) erschienenen Bändchen zur italienischen Filmgeschichte eine lohnende Einzeluntersuchung.

Roberto Benigni (r.) in Matteo Garrones "Pinocchio" (© Capelight)
Roberto Benigni (r.) in Matteo Garrones "Pinocchio" (© Capelight)

Anschaulich ist eine geraffte Aufzählung von Kassenschlagern, die wegen ihres speziellen Lebensgefühls mal mehr, mal weniger große Exportchancen besaßen. Darunter fallen ab 1980 die Komödie „Don Tango – Hochwürden mit der kesse Sohle“ von Pasquale Festa Campanile, die Molière-Adaption „Der eingebildeteKranke“ von Tonino Cervi, „Der gezähmte Widerspenstige“ und „Gib dem Affen Zucker“ von Castellano e Pipolo, „Meine Freunde“ von Mario Monicelli, die Koproduktion „Der Name der Rose“, Bertoluccis „Der letzte Kaiser“ undLeonardo Pieraccionis Beziehungskomödien „Il Ciclone“, „Ti amo in tutte le lingue del mondo“, „Una moglie bellissima“. Neri Parenti ließ immer wieder mit Weihnachtsfilmen für die ganze Familie die Kinokassen klingeln. Und Gennaro Nunziante traf mit dem unverwüstlichen Humor des Starkomikers Checco Zalone in „Che bella giornata“, „Sole a catinelle“ und „Der Vollpfosten“ stets ins Schwarze.

Wenig überraschend bezeichnet Irmbert Schenk drei Regisseure als international vielversprechendste Newcomer und Festivaliers nach 2000: Marco Tullio Giordana und seine historisch-psychologische Porträts in der Verschränkung aus privater und öffentlicher Geschichte; Matteo Garrone mit zupackenden, realistischen Gesellschaftsstudien und den auf intensiv-stilisierte, mondäne Dekadenz fixierten Paolo Sorrentino.




Literaturhinweis

Geschichte des italienischen Films. Von Irmbert Schenk. Schüren Verlag, Marburg 2021, 328 S., 51 Abb., 34 Euro. Bezug: in jeder Buchhandlung oder hier.

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