© imago/Starface (Jean Luc Godard - 3.12.1930-13.9.2022)

Eine Blume aus dem Paradies - Jean-Luc Godard

Nachruf auf Jean-Luc Godard (3.12.1930-13.9.2022), der das Kino nicht nur revolutioniert, sondern als immerwährendes Laboratorium des Lebens verstanden hat

Veröffentlicht am
02. Februar 2023
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Sein Leben leben, außer Atem. Rette sich, wer kann. Sein Leben leben in der Außenseiterbande, hier und anderswo. Comment ca va, Jean-Luc le Fou? Außer Atem am Anfang. Und am Ende das Buch des Bildes. L’histoir(e)s du cinéma. 1954 bis 2022. Forever JLG. Adieu.


Das Leben von Jean-Luc Godard ging am 13. September 2022 zu Ende. Wenn ich ihn überleben würde, hat seine Lebensgefährtin Anne-Marie Miéville schon vor einige Zeit verraten, würde ich auf seinen Grabstein schreiben lassen: „AU CONTRAIRE“. Dieses „au contraire“ war in der Tat das Leitmotiv von Godards Denken; dieser Geist des Widerspruchs hat ihn zum wichtigsten Filmautor des modernen Kinos gemacht. Das begann schon mit dem ersten Spielfilm, „A bout de souffle“ („Außer Atem“) im Jahr 1959. Da schlich sich allmählich die Ahnung aufs Set, dass hier etwas ganz Außergewöhnliches passiert. Kameramann Raoul Coutard war der erste, der dies registrierte. Er liebte die Herausforderung, mit der Kamera spontan auf die Schauspieler zu reagieren. Auch Jean Seberg merkte mit der Zeit, dass sie bei Godard freier agierte als etwa bei Otto Preminger. Jean-Paul Belmondo steigerte sich von Tag zu Tag, bis ihm Jean-Luc Godard am letzten Drehtag ins Ohr flüsterte: „Versuch gut zu sterben, jede Sekunde dieser Einstellung hält den Film eine Woche länger in den Kinos.“

Etwas Außergewöhnliches lag in der Luft: "A bout de souffle" von 1959 (StudioCanal)
Etwas Außergewöhnliches lag in der Luft: "A bout de souffle" von 1959 (StudioCanal)

Und dann im Schneideraum: Godard schnitt innerhalb von Einstellungen, hatte keine Probleme mit Achsensprüngen und „falschen“ Anschlüssen, fragmentierte Abläufe mit Jump cuts. Der Produzent Georges de Beauregard verzweifelte. Doch dann im Kino – der große Triumph. „A Bout de souffle“ markierte deutlicher als „Sie küssten und sie schlugen ihn“ von François Truffaut die Geburt eines neuen Kinos, der Nouvelle Vague.


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Das Gegenteil von dem zu machen, was Andere erwarten: dieser Devise blieb JLG treu. Er ist kein etablierter Regisseur geworden, der seinen Stil gefunden und perfektioniert hätte. Er verblüffte mit jedem neuen Film Zuschauer wie Kritiker. Jeder seiner Filme war eine mit Spannung erwartete neue Beschäftigung mit der Phänomenologie der bewegten Bilder und Töne. Nach Coutards entfesselter Handkamera in „Außer Atem“ das Gegenteil in „Eine verheiratete Frau“ (1964): Da lässt er Coutard grafische Anordnungen von Armen, Beinen, Händen, Gesichtern komponieren, die in ausgefeilten Einstellungen ein Liebespaar zeigen, eine verheiratete Frau mit ihrem Liebhaber. In „Weekend“ (1968) vollzieht sich dann Godards Abschied vom Kino. Zu Beginn des Films gibt es noch einmal Bilder und Sequenzen, wie man sie im Kino noch nie sah, die Beichte einer Frau, verbale Pornografie, von Musik überlagert, was die Beschreibung sexueller Details nur noch fragmentarisch hörbar macht. Und das längste Travelling der Filmgeschichte (das jedenfalls war Godards Ambition), an einem endlosen Autostau entlang mit Unfällen, Toten, brennenden Wracks, aggressiven Menschen. Krieg auf den Straßen.

Von „Die Verachtung“ (1963), über „Elf Uhr nachts“ (1965) zu „Weekend“ (1968) befindet man sich mit Godard auf formal-ästhetisch höchstem Niveau auf dem Weg von der bürgerlichen Zivilisation in die Barbarei. Im Mai 1968 katapultierte sich Godard dann aus der Filmszene hinaus und organisierte sich in der Group Dziga Vertov mit dem Anspruch, nicht politische Filme, sondern Filme politisch zu machen. Aus „au contraire“ wird politischer Radikalismus, extreme, spröde, politisch radikal argumentierende Produktionen. Aus „au contraire“ wird aber auch „Rette sich wer kann“, der Titel eines seiner Filme aus dem Jahr 1980, und vielleicht auch ein neues Leitmotiv.

Godard Hund am Genfer See: "Le Livre d'Image" (imago/United Archives)
Godard Hund am Genfer See: "Adieu au langage" (imago/United Archives)

Ohne Wahrheit leben in einer gewaltsamen, verworrenen Welt. Um dieses Problem kreisen Godards späte Filme. Er litt am Zustand der Welt. Darüber Filme zu machen, war seine Form des Überlebens. Rette sich, wer kann. Kinobilder sind in allen Filmen von Godard anwesend. In „Adieu au langage“ (2014) laufen auf großen Flatscreens ständig Filme; man sieht (in 3D) Menschen am Genfer See, die reden, streiten, lieben, sich quälen und sich fragen: um was geht es? Zwischen all den Bildern läuft Godards Hund durch den Film. Er ist das fröhlichste Wesen in dieser Gesellschaft der Zweifler, Kulturpessimisten und Verlorenen.


Was die (Kino-)Bilder mit uns anstellen

Was ist das Kino? Das fragte sich Godard 1988 in Rolle am Genfer See. Man sieht ihn mit der Zigarre im Mund vor seinen elektronischen Bildschirmen sitzen, Bilder betrachten und Texte mit flüsternder, nachdenklicher, melancholischer Stimme sprechen. Es sind eigene Texte und Texte aus der Literatur, der Kunst- und Kulturgeschichte, die Godard, ohne zu sagen, wer sie verfasst hat, mit Bildern und Filmausschnitten konfrontiert. Diese Bilder illustrieren nicht, sie assoziieren Zusammenhänge, transportieren anregende Gedankenspiele. Es ging ihm nicht darum, die Filmgeschichte zu erklären, sondern darüber nachzudenken, was die Bilder des Kinos mit uns anstellen. Er fragt nicht wie André Bazin „Was ist Film?“, sondern „Wie erlebe ich Film?“ Diese „Histoir(e)s du Cinéma“ war der verzweifelte Versuch, sich gegen die Macht des Kinos zu wehren, sich nicht manipulieren zu lassen von einer Traumfabrik, die Mythen erfindet und echter als das Leben sein will.

Jean-Luc Godard war ein Phänomen, eine bemerkenswerte Erscheinung. Phänomenal ist, wie er mit seinem Filmen vor allem Kritiker immer wieder von Neuem in Aufregung versetzte, sie aus der Reserve lockte und anregte, mit voller Begeisterung für oder gegen ihn zu sein. Dieses Prinzip hat er seit seinem Debüt „A bout de souffle“ unbarmherzig kultiviert, in über 60 Jahren immer mehr gesteigert und mit seinem letzten Film zu einem Höhepunkt geführt.

"Le Livre d'Image" (imago/United Archives)
"Le Livre d'Image" (imago/United Archives)

Das erste Bild von „Le Livre d’Image“ zeigt einen erhobenen Zeigefinger. Achtung! Könnte das heißen, passt auf, was jetzt kommt. Die letzten Bilder zeigen ekstatisch tanzende Paare in einem Pariser Salon. Ein Monsieur im Zylinder bricht auf der Tanzfläche zusammen. Filmkenner freuen sich, wenn sie erkennen, dass es sich um eine Szene aus dem Episodenfilm "Le Plaisir" von Max Ophüls handelt. Doch darum geht es nicht. Es geht nicht um die Geschichte des Kinos, obwohl Godard die meisten seiner Bilder aus der Filmgeschichte holt, ohne sie zu benennen. Godards Film kann man als Palimpsest begreifen. Wie das alte Pergamentschriftstück, von dem in der Antike der ursprüngliche Text abgeschabt wurde, um danach neu beschriftet zu werden, holt sein Film immerwährende Schichten von Ideen, Bildern, Gefühlen, die nicht gelöscht sind, aus dem Gedächtnis und stellt eine unendliche Kette von Bedeutungen her.


Mit Bildern denken

Es geht um alles in diesem Film, um die Umwelt und ihre fortschreitende Zerstörung, um Unrecht, Krieg und Liebe und Freiheit. Bis zum Schluss stellte Godard ein Kino her, das dem Publikum nicht eine Vision aufzwang, sondern es mit dem Realen, dem Wirklichen, mit den Bewegungen des Lebens konfrontierte, ein Kino, bei dem es mitdenken konnte. Godard wusste: „Das Kino, wie wir es kannten und geliebt haben, ist verschwunden“. Doch es muss ein letztendlich glückliches Cinéasten-Leben gewesen sein, das er mit diesem Bastard Film führte. „Wenn ein Mensch“, flüsterte er am Ende seiner „Histoire(s) du Cinéma“ ins Mikrofon, „wenn ein Mensch das Paradies im Traum durchquerte und eine Blume erhielte als Beweis für seinen Aufenthalt und er beim Erwachen diese Blume in seinen Händen fände, was würde er sagen?“ „Ich war dieser Mensch“, sagte Godard.

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