© Leonine (Michelle Yeoh in "Everything Everywehre All in One")

Kinomuseum-Blog (7): Die Rettung der Mundpropaganda

SKS-Blog „Kinomuseum“ (7): Volle Startlisten geben guten Filmen keine Zeit, für sich selbst zu werben. Hier kann man von der „Limited Release“-Praxis der US-Amerikaner lernen

Veröffentlicht am
30. Oktober 2022
Diskussion

Anspruchsvolle Filme profitieren davon, wenn sie über längere Zeit in den Kinos laufen, da sie so über Mundpropaganda nach und nach ein großes Publikum finden. In diesem Jahr gelang dies in Deutschland vor allem dem Actionfilm-Puzzle „Everything Everywhere All at Once“, doch die aktuelle Lage mit einer Unzahl an gleichzeitigen Starts lässt solche Longseller immer seltener werden. Lernen ließe sich hier von einem US-amerikanischen Vorbild: der „Limited Release“-Praxis.


Mühsam kommt das Kino wieder in die Gänge, aber vieles spricht dafür, dass es trotz steigender Corona-Inzidenzen doch noch ein guter Herbst werden könnte. Gerade in Deutschland ist der Herbst die bevorzugte Jahreszeit für jene Sorte von Filmen, die es wohl noch nie so schwer hatte wie seit der Pandemie – anspruchsvolle, ernste Filme. Ihr Publikum, die älteren, gebildeten Schichten und Studierende, fehlt den Kinos derzeit besonders. Die lokalen Festivals werden in den nächsten Wochen hoffentlich das Eis brechen und wieder Lust auf Kino machen.

Allerdings nur, wenn Filme nicht den Filmen im Weg stehen. Mindestens 15 Starttermine sind bis Heiligabend wöchentlich gelistet; am 24. November zählt man sogar 21. Nicht zu vergessen der gefürchtetste Mittwoch zwischen diesen Donnerstagen: Am 14. Dezember startet der Film, das der kassenstärkste Film des kommenden Jahres werden möchte: James Camerons „Avatar– The Way of Water“. Welcher Verleiher, der nicht eine wirkliche Alternative anzubieten hätte, traute sich in dessen Nähe?

Setzt auf alternative Strategien: "Triangle of Sadness" (Alamode)
Setzt auf alternative Strategien: "Triangle of Sadness" (© Alamode)

Man kann kaum leugnen, dass die unabhängigen Verleiher neben den Arthouse-Betreibern die großen Verlierer der Kinokrise sind. Die Freude über ein volles Haus, wie sie sich etwa jüngst bei den Vorpremieren von Ruben Östlunds Cannes-Gewinner „Triangle of Sadness“ beobachten ließ, ist ein seltenes Ereignis.


Event-Starts mit buchstäblichem Momentum

Dagegen steht der erfolgreichste Kinostart der gleichen Woche: Mehr als 250.000 Menschen sahen das neueste Anime des japanischen Traditionsstudios Toei, „One Piece Film: Red“. Auch wenn die Geschichte einer Popsängerin, die wie weiland Pippi Langstrumpf von sich behaupten kann, einen Piratenkapitän zum Vater zu haben, nicht das feinsinnigste Beispiel dieser Filmform darstellt, ist es ein Ereignis. Handanimiert unter der Leitung des Veteranen Goro Taniguchi, gehört der Film fraglos ins Kino. Allerdings wird er sich dort nicht lange halten. Das Prinzip des Event-Starts setzt ganz auf das kollektive Erlebnis als buchstäbliches Momentum. Wer sich einmal unter die Teenager gemischt hat, erlebt tatsächlich ein Live-Event; die Zuschauerreaktion ist nur mit Popkonzerten und Sportveranstaltungen vergleichbar. Ließen sich solche Events auch für andere Filmformen entwickeln?

Setzt ganz auf Event-Marketing: "One Piece: Red" (Crunychroll)
Setzt ganz auf Event-Marketing: "One Piece: Red" (© Crunychroll)

Vermutlich stellen sich Filmverleiher recht häufig diese Frage und blicken mit Argusaugen auf den erfolgreichen Anime-Lizenznehmer mit dem kulinarischen Namen Crunchyroll. Tatsächlich gehen Vorpremieren wie die von „Triangle of Sadness“ in die gleiche Richtung, aber anders als die gestaffelten Starttermine, mit denen in den USA Festivalerfolge grundsätzlich ausgewertet werden, fehlt ihnen der nötige Vorlauf, um ein Optimum an Mundpropaganda zu erzeugen.


Die US-amerikanische „Limited Release“-Praxis

Bei der „Oscar“-Verleihung 2022 fiel auf, dass die großen Gewinner, anders als man es dort auch von Qualitätsfilmen erwartet, keine Kassenerfolge waren. Dies führt das Branchenblatt Variety auf die fehlende Möglichkeit zur „limited release“-Praxis zurück. Insbesondere, weil vier bewährte Kinos in Los Angeles und New York wegen besonders strenger Lockdowns nicht zur Verfügung standen. Diese Woche aber hat das Konzept des „Limited Release“ wieder funktioniert: Das satirische Drama „Tár“ von Todd Fields über das missbräuchliche Verhalten einer gefeierten Dirigentin spielte in eben diesen vier Kinos an einem einzigen Wochenende 160.000 Dollar ein. In der nächsten Woche kommen 30 weitere Kinos in zehn Regionen dazu.

Diese Strategie lässt sich möglicherweise nicht eins zu eins auf einen so dichtbesiedelten Filmmarkt wie Deutschland übertragen. Und doch lässt sich vielleicht etwas davon lernen.

Der erfolgreichste Festivalfilm in deutschen Kinos ist in diesem Jahr „Everything Everywhere All at Once“. Das cineastische Wimmelbild von Dan Kwan und Daniel Scheinert huldigt der Reizfülle des untergangenen Hongkong-Kinos der Jahrtausendwende, was schon die Besetzung der Hauptrolle mit Michelle Yeoh signalisiert. Doch ähnlich wie Quentin Tarantions Verbeugungen vor Genretraditionen gewinnen die beiden für ihre Neuschöpfung auch ein neues Publikum.

Erfolgreich gegen den Trend: "Everything Eyerywhere All at Once" (Leonine)
Erfolgreich gegen den Trend: "Everything Eyerywhere All at Once" (© Leonine)

Seit dem 8. April läuft der Film in deutschen Kinos, wo er bislang über 210.000 ZuschauerInnen erreichte. Kleine Kinos, die kaum eine Chance haben, an der Wochenend-Explosion eines Anime-Blockbusters teilzuhaben, setzten auf das gegenteilige Prinzip des Longsellers – und wurden reich belohnt.


Das Risiko, Filme im Spielplan zu lassen

Mundpropaganda ist möglicherweise nicht die gleiche Währung wie in jener Zeit, da Kinos nicht mehr die Wochen, sondern die Jahre zählten, die sie „Spiel mir das Lied vom Tod“ auf dem Programm hatten. Aber es besteht eine gewisse Einigkeit darüber, dass es der schnelle Markt mit seinen vollen Startlisten zu einem Risiko gemacht hat, Filme wenigstens ein paar Wochen auf dem Spielplan zu lassen, damit sich Mundpropaganda aufbauen kann. Das US-amerikanische Modell ist einfach: Ein paar große Kinos in den Metropolen, die es sich leisten können, übernehmen die Pionierrolle. Die kleineren folgen dann, wenn der Hype bereits abzusehen ist. Dann allerdings wäre es gut, wenn nicht Filme die Startlisten verstopften, die nur auf Grund von Förderrichtlinien ins Kino kommen. Aber das ist eine andere Geschichte.


Hinweis

Die Beiträge des Kracauer-Blogs „Kinomuseum“ von Daniel Kothenschulte und viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.

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