© PROGRESS Filmverleih (aus "Luftkrieg")

Bedrohung der Menschheit - Sergei Loznitsa

Eine Begegnung mit Sergei Loznitsa anlässlich des Kinostarts von „Luftkrieg – Die Naturgeschichte der Zerstörung“

Veröffentlicht am
07. Mai 2023
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Bei den Flächenbombardements deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg wurde das Prinzip des totalen Krieges angewandt, das die Zivilbevölkerung zum Kombattanten macht. In dem Dokumentarfilm „Luftkrieg – Die Naturgeschichte der Zerstörung“ (seit 16. März im Kino) geht Sergei Loznitsa dieser Entwicklung nach und konfrontiert mit ihren Konsequenzen.


Der aus der Ukraine stammende, aber schon lange in Deutschland arbeitende Regisseur Sergei Loznitsa interessiert sich in seinen Filmen für Fragen, auf die sich keine einfachen Antworten finden lassen. Seit seinem Debütfilm „Heute bauen wir ein Haus“ (1996) geht er „unbeantwortbaren Fragen“ nach, etwa in „Babi Yar. Context“, „The Kiev Trial“ und „State Funeral“, also „Fragen, die widerhallen und die nicht eindeutig zu klären sind.“ Das Uneindeutige, Flirrende, Entrückte ist es auch, was ihn nach „Austerlitz“ (2016) abermals zum Werk des deutschen Schriftstellers W.G. Sebald führte, dem er sich auch in seinem neuen Film „Luftkrieg – Die Naturgeschichte der Zerstörung“ (seit 16. März im Kino) nähert.

Für Loznitsa reichen die Fragen, die Sebald in seinem vieldiskutierten Essay „Luftkrieg und Literatur (1999) über die Bombardierungen deutscher Städte durch die Alliierten aufwirft, über das Politische hinaus. Auch über ideologische Fragestellungen, wie er betont. „Es geht mir darum zu zeigen, was es heißt, wenn die Zivilbevölkerung zum Gegenstand der Kriegsführung wird.“ In „Luftkrieg“ montiert Losznitsa digital restaurierte Archivbilder deutscher Städte und ihrer Bewohner während der Bombenabwürfe durch US-amerikanische und britische Flugzeuge zu einem eindrücklichen filmischen Präsens. Mithilfe der Montage sowie einer eindringlichen Klangspur wird ein Rhythmus und Sog erzeugt, deren Takt lange nachwirkt. Fast so, als flüsterte einem der Film nach dem Kinobesuch aus der Entfernung weiter zu. Das ist eine gespenstische Qualität, die Loznitsa mit dem eigentümlichen Sebald-Werk verbindet.


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Sebald stellt in seinem Buch zwei essenzielle Fragen, so Loznitsa: „Was ist passiert? Und wie gehen wir damit um? Die Antwort auf die erste Frage ist einfach. Die zweite Frage, was es für die Menschen bedeutet, ist immer noch ein Rätsel.“

Während „Luftkrieg“ jetzt im Kino läuft, tobt in der Ukraine weiterhin ein gegenwärtiger Krieg, zu dem sich Loznitsa klar positioniert hat. Er verurteilt die russische Aggression, spricht aber auch dem Westen eine Teilschuld zu. Allerdings nicht in dem Sinne, wie es das „Friedenslager“ um Alice Schwarzer und die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht versteht. Es war nicht die Politik der Nato, die zu dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 führte, so Loznitsa, sondern das jahrelange westliche Stillhalten gegenüber Putin und seinem wachsenden Moskauer Machtapparat, der die russische Zivilgesellschaft erstickt hat.

Sergej Loznitsa 2022 bei der Premiere von "Luftkrieg" in Cannes (© IMAGO / Starface)
Sergej Loznitsa 2022 bei der Premiere von "Luftkrieg" in Cannes (© IMAGO / Starface)

Propaganda und ihre Wirkweisen

Diese klare Positionierung hat aber nicht verhindert, dass der Regisseur aus der ukrainischen Filmakademie geworfen wurde. Grund für seinen Rausschmiss war, dass Loznitsa sich gegen einen pauschalen Boykott russischer Künstler:innen aussprach. Kriegszeiten, so weiß man es schon lange, sind immer auch Zeiten des rigiden Schwarz-weiß-Denkens.

Der in Kiew geborene Sergei Loznitsa hat sich intensiv mit den sowjetischen Propagandaformen und deren Wirkweisen auseinandergesetzt. Diese Beschäftigung prägte sein Filmemachen. Bis heute ist der Regisseur geradezu allergisch gegenüber einem dokumentarischen Ansatz, der die Zuschauer bevormundet. In seinen Arbeiten findet sich kein Erzähler, dessen „Voice over“ das Gezeigte kommentiert, auch keine „Talking Heads“, die zur beschaulichen Geschichtsstunde einladen. Es gibt nur das Material, in Form gebracht durch den Regisseur im Filmschnitt und so verdichtet, dass es die Essenz eines Themas zu transportieren vermag.

Das ist die filmische Methode in Werken wie „Blockade“ über die Belagerung Leningrads, „The Event“ über den missglückten Putschversuch gegen Gorbatschow oder „Maidan“ aus dem Jahr 2014. Die fein kadrierten Einstellungen der Chronik über den Euromaidan erzeugen eine Unmittelbarkeit, als sei man bei den revolutionären Ereignissen in der ukrainischen Hauptstadt selbst mit dabei gewesen.

Loznitsas Filme sind mit medialem Raffinement bewerkstelligte Zeitreisen, die mitten in die Ereignisse stürzen, inklusive aller Desorientierung und Überforderung, die mit einer solchen Methode einhergehen. Sie erfüllt den konkreten Zweck, am Geschehen unmittelbar teilhaben zu lassen. Auch in „Luftkrieg“: „Sie werden als Zuschauer in das Geschehen hineingezogen und erfahren mit Haut und Haaren und ihrer Seele, was sich abgespielt hat.“

Mitten im Geschehen: "Maidan" (© Grandfilm)
Mitten im Geschehen: "Maidan" (© Grandfilm)

Angesichts der Bilder und der Klangkulisse des Films beschreibt das recht genau, was passiert, auch wenn sich etwas kritisch vor die Wahrnehmung schiebt. Denn als Zuschauer fragt man sich, ob das Hineingezogenwerden überhaupt wünschenswert ist. Bedürfte es nicht vielmehr einer Distanznahme, einer Kontextualisierung und Erklärung, warum hier Bomben auf deutsche Städte fallen?


Der Totale Krieg als Konzept

Loznitsa geht es in „Luftkrieg“ darum, auf ein Prinzip der Kriegsführung aufmerksam zu machen, das im Zweiten Weltkriegs erstmals angewendet wurde: das Konzept des totalen Krieges, der auch die Zivilbevölkerung miteinschließt. Für Loznitsa wird hier ein neues Kapitel der menschlichen Historie aufgeschlagen. „Seitdem die Zivilbevölkerung zum Ziel wurde, ist die Menschheit militärgeschichtlich in eine neue Phase eingetreten. Einst wurden Kriege zwischen Armeen ausgetragen. Doch seit dem Krieg gegen die Zivilbevölkerung ist der Krieg zu einem totalen geworden, der die gesamte Bevölkerung einschließlich der Zivilisten einbezieht.“

Das Prinzip sei bereits während des Ersten Weltkrieges aufgekommen, doch erst im Zweiten Weltkrieg wurde es zu einem Teil der Kriegsmaschinerie. „Es gibt kaum ein Thema, das wichtiger und aktueller sein könnte“, betont der Regisseur auch mit Blick auf den russischen Krieg in der Ukraine. Für ihn liegt die Gefahr einer weiteren Eskalation auf der Hand. „Dann würden noch mehr Gebiete und Länder involviert, und wir alle würden gezwungen sein, uns daran zu beteiligen. Ob wir wollen oder nicht.“

Bilder mit aktueller Resonanz: "Luftkrieg" (© IMPERIAL WAR MUSEUM, Progress Filmverleih)
Bilder mit aktueller Resonanz: "Luftkrieg" (© IMPERIAL WAR MUSEUM, Progress Filmverleih)

Loznitsa machte 1987 seinen Abschluss in angewandter Mathematik am Kiewer Polytechnikum. Von 1987 bis 1991 arbeitete er als Wissenschaftler am Institut für Kybernetik, wo er sich auf die Untersuchung künstlicher Intelligenz spezialisierte. Zum Film gelangte Loznitsa erst später. 1997 schloss er sein Studium am Russischen Staatlichen Institut für Kinematographie (VGIK) in Moskau ab, wo er Spielfilmregie studierte. Besonders in seinen frühen experimental-dokumentarischen Arbeiten widmete er sich studienhaft den filmischen Kategorien von Ort, Bild und Zeit. Es sind Filme als Versuchsanordnungen. „Settlement“, „Portrait“, „Landscape“ lauten ihre Titel; eine sehenswerte Auswahl früher Arbeiten ist aktuell bei Mubi zu sehen. Schon hier präparierte Loznitsa aus dem Material jeweils eine Essenz des Geschehens heraus.

Neben seinen Spielfilmen wie „Mein Glück“, „Donbass“ und „Die Sanfte“ wandte sich Loznitsa in den vergangenen Jahren zunehmend der Arbeit mit Archivmaterial zu. Seine präzise Handschrift als Filmemacher zeugt von einer angestrebten Verbindung von Kunst und Mathematik, einem System der Synthese aus ästhetischer und wissenschaftlicher Anschauung.

Der Untertitel des neuen Films, „Luftkrieg - Die Naturgeschichte der Zerstörung“, ist ein recht finsterer zivilisatorischer Befund und in der Hinsicht konsequent, dass Loznitsa auch in menschlichen Sozialbezügen determinierende Gesetzmäßigkeiten am Werk sieht. Auf die Frage, ob er tatsächlich überzeugt sei, dass der Mensch eine natürliche Tendenz zur Gewalttätigkeit besitze, antwortet der Regisseur mit dem Verweis auf Clausewitz und sein Werk „Vom Kriege“: „Als menschliche Gattung haben wir bisher nicht viel unternommen, um Clausewitz zu widerlegen. Es geht um das Wesen des Krieges und um unsere Veranlagung dazu. Clausewitz beschreibt dieses Phänomen in seinem Buch über den Krieg sehr präzise.“


Ein universelles Kriegsprinzip

In „Luftkrieg“ hat sich Loznitsa entschieden, das aus deutschen und britischen Quellen stammende Archivmaterial nicht in chronologischer Reihenfolge zu arrangieren. Der dramaturgische Höhepunkt zeigt sich früh. Bilder des Alltags in Deutschland vor den Bombardierungen werden jäh von Aufnahmen der Zerstörung ganzer Städte abgelöst. Loznitsa präsentiert die Flächenbombardements der Westalliierten in diesem Kontext als Kriegsverbrechen. Unter Historiker:innen ist diese Einordnung umstritten. Kann es eine Rechtfertigung für das Ausmaß der Angriffe auf die deutsche Zivilbevölkerung geben, in der das Nazi-Regime ungebrochenen Rückhalt besaß?

Für Loznitsa läuft eine solche Fragestellung auf den Begriff der Kollektivschuld hinaus, den er strikt ablehnt. „Wenn man die Frage so stellt, heißt das doch, dass es erlaubt ist, Menschen zu töten, weil andere Menschen Verbrechen begangen haben. Eine solche Frage wirft uns in unsere zivilisatorische Vergangenheit zurück. Die Vorstellung der individuellen Verantwortung dürfen wir auf keinen Fall vergessen und aufgeben.“

Mit dem Anspruch, in „Luftkrieg“ ein universelles Kriegsprinzip darzulegen, erzählt Loznitsa nicht nur von den Bombardements deutscher Städte, sondern indirekt auch von der Vernichtung britischer, französischer oder holländischer Zentren während des Zweiten Weltkriegs. Über die Zeiten hinweg ziehen sich gespenstische Verbindungslinien bis in die Gegenwart: nach Aleppo, Mariupol oder Cherson. Mit Blick auf die Bombardements der Alliierten auf Deutschland während des Zweiten Weltkriegs fügt Loznitsa hinzu: „Ich will das weder rechtfertigen noch verurteilen. Ich möchte nur die Aufmerksamkeit auf das Problem lenken, das damit aufgeworfen wird. Es ist ein sehr gefährliches Thema und stellt eine Bedrohung für die gesamte Menschheit dar. Wir müssen uns darüber bewusstwerden.“

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