Beim 76. Filmfestival in Locarno gewann der iranische Film „Critical Zone“ von Ali Ahmadzadeh den „Goldenen Leoparden“. Die Jury lobte den illegal in den Straßen von Teheran gedrehten Film als Manifest der Freiheit und der Widerstandskraft des iranischen Volkes. Die Absicht der Veranstalter, das Publikum zurückzugewinnen, ging auf: Mit rund 15 Prozent mehr Zuschauern erfreuten sich die Kinos wie auch die Pizza Grande einer hohen Auslastung.
Emotional wurde es beim 76. Film Festival Locarno (1.-12.8.2023), als Präsident Marco Solari am letzten Abend für ein Adieu nochmals auf die Bühne der Piazza Grande trat, mit einem Ehrenleoparden bedacht und zum „Presidente d’onore“ ernannt wurde. Ähnlich bewegt war es auf der Piazza schon in den Tagen zuvor zugegangen. Etwa als die Kinderjury vor der Uraufführung von „Voyage au pôle sud“ dessen Regisseur Luc Jacquet ihren Preis überreichen wollte und plötzlich zwei Klimaaktivisten auf die Bühne stürmten. Die Art und Weise, wie Marco Solari und Festivaldirektor Giona A. Nazzaro diese Situation zu deeskalieren verstanden, indem sie den Aktivisten das Mikrofon reichten, damit sie ihr Anliegen kundtun konnten, war ein echter Akt der Humanität (auf Video festgehalten hier).
Luc Jacquet griff die Forderungen der Klimakämpfer spontan auf und sponn sie weiter. Ähnliches tut er auch in seinem Film, der ihn 30 Jahre nach „Kongress der Pinguine“ erneut an den Südpol zurückkehren ließ. Die Antarktis ist für Jacquet ein Sehnsuchtsort. Sein Film dokumentiert in Schwarz-weiß die Reise dorthin. Die dabei zum Tragen kommende Ehrfurcht vor der Natur, den geografischen Gegebenheiten und Witterungsbedingungen sowie die im Off eingesprochenen Gedanken sind echte Denkanstöße: Muss, soll, ja darf der Mensch den letzten noch nicht erkundeten Kontinent der Erde erforschen – oder soll man diese wilde Unberührtheit nicht besser sich selbst überlassen?
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Mit Standing Ovations wurden auf
der Piazza auch Ken Loach und sein langjähriger Drehbuchautor Paul Laverty begrüßt.
Die beiden sind Locarno seit Jahrzehnten verbunden. Loach wurde hier schon 1972
für „Family Life“ mit dem Preis der Jugendjury ausgezeichnet.
2003 bekam er einen Ehrenleoparden für sein Lebenswerk. Ihr neuer Film „The Old Oak“ ist wie fast alle Laverty-Loach-Filme ein sanfte
sozialkritische Dramödie. Diese spielt in einer kleinen Bergbaugemeinde in
Durham. Die Bevölkerung ist arm, viele sind arbeitslos, und „The Old Oak“ ist
der letzte offene Pub im Ort. Unter seinen Stammgästen kocht die Stimmung hoch,
als 2016 eine syrische Flüchtlingsfamilie im Ort ein Zuhause zugewiesen
bekommt. TJ Ballantyne, der Betreiber des Pubs, sieht sich alsbald gezwungen,
zwischen den maulenden Einheimischen und den Neuzuzüglern zu intervenieren und
die eigene Komfortzone zu verlassen.
„The Old Oak“ ist tief humanes Kino, das nicht davor zurückschreckt, das Publikum in seiner Emotionalität abzuholen. Das kann man sicherlich kritisieren – oder ähnlich wie die Zuschauer der Piazza verstehen, die „The Old Oak“ den Publikumspreis zusprachen. Es gab hier noch andere sehenswerte Film zu entdecken, etwas das 1938 spielende Drama „La bella estate“ von Laura Luchetti um eine junge Frau, die ihre Liebe zu einer anderen Frau entdeckt, aber nicht ausleben darf. Oder den von originellen Einfällen sprudelnden Film „Theater Camp“ von Molly Gordon und Nick Liebermann sowie „La voie royale“ von Fréderic Mermoud um eine aus einer Bauernfamilie stammende, hochbegabte Jugendliche und deren Versuche, in eine französische Elite-Uni aufgenommen zu werden.
Ein ansprechender Wettbewerb
„La voie royale“ und das wiederholte Scheitern und der harte Kampf der Protagonistin hätte allerdings besser als auf die Piazza in den internationalen Wettbewerb gepasst. Der bewegte sich auch in der zweiten Festivalhälfte auf erfreulich hohem Niveau, verzeichnete allerdings auch einige Ausreißer. So etwa erwies sich Quentin Dupieux‘ mit Spannung erwarteter Ego-Shooter-Movie „Yannick“ als pointiert dialogwitziger Film; allerdings fehlte ihm auf weite Strecken der für Dupieux typische sarkastische Humor. „El auge del humano 3“ von Eduardo William ließ in seiner befremdlichen Erzählweise, in der das aus dem Off Hörbare mit dem auf der Leinwand Gezeigten kaum je korreliert, die Zuschauer im Stich. Und Leonor Teles „Baan“ irritierte mit einer zweifelsohne hübschen Hauptdarstellerin, die sich durchaus vorteilhaft in Szene zu setzen wusste, deren Gesicht aber trotz aller Tiefen und Höhen, durch die ihre Figur geht, keine einzige Gefühlsregung erkennen ließ. Das sprang umso mehr ins Auge, weil István Szabó, der in Locarno mit dem Ökumenischen Ehrenpreis für sein Lebenswerk geehrt wurde, kundtat, dass das Wunder des Kinos die im nackten Gesicht sichtbar werdenden Emotionen seien.
Zu den überzeugendsten
Wettbewerbsbeiträgen zählten „La imatge permanent“ von Laura
Ferres und „Stepne“ von Maryna Vroda. Beide Filme drehen sich um
Familien, deren Mitglieder sich im Laufe der Jahre voneinander entfernt haben,
sich später aber wiederbegegnen. Ferres schildert im ersten Teil von „La imatge
permanent“, wie ein Mädchen, das mit 15 Jahren Mutter wurde, sich aus ihrem
Dorf davonstiehlt, und lässt im 50 Jahre später spielenden zweiten Teil
miterleben, wie die Frauen der undurchsichtig ineinander verstrickten Familie per
Zufall in einer Großstadt wieder zusammenfinden. „Stepne“ hingegen spielt in
einem abgelegenen Dorf in der Ukraine und erzählt, wie ein in die Stadt
gezogener Mann wieder zurückkehrt, um seine Mutter in ihren letzten Tagen zu
begleiten. Er trifft Bekannte aus der Kindheit, seinen Bruder und eine Frau,
die er liebt. Doch der Gedanke, ins Dorf zurückzukehren, das Haus zu übernehmen
und neu anzufangen, streift ihn nur kurz. Nach der Beerdigung wird das Haus
geräumt und verkauft; selbst der Hund der Mutter verschwindet, bevor der Mann
in sein eigenes Leben zurückkehrt.
Maryna Vroda hat „Stepne“ noch vor Beginn des russischen Überfalls gedreht und während des Kriegs fertiggestellt. Sie hat vorwiegend mit Laien gearbeitet; viele der betagten Darsteller, aber auch einige Mitglieder des Filmteams sind inzwischen verstorben. Vroda wurde für „Stepne“, der über weite Strecke präzise-bedächtig die traditionellen Abläufe bei einem Sterbefall schildert, mit dem „Leoparden“ für die beste Regie geehrt. Sie gewann zugleich den Preis der FIPRESCI-Jury und erhielt eine spezielle Erwähnung der Jugendjury.
Aber auch Simon Bozellis „Patagonia“, Ali Ahmadzadehs „Critical Zone“ („Mantagheye bohrani“) und Sylvain Georges „Nuit obscure – Au revoir ici, n’import où“ hoben sich vom Gros der Filme deutlich ab. Alle drei spielen in der Gegenwart und erzählen Geschichten von Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Ihre Protagonisten sind junge Männer, die von besseren Lebensbedingungen und der Liebe träumen, manche auch von einer besseren Welt, in der ihnen eine Chance zusteht.
Am Rande der Gesellschaft
„Patagonia“ dreht sich um den gutherzigen und etwas naiven Yuri. Der knapp 20-Jährige lebt abwechselnd bei seinen Tanten, die ihn als Mädchen für alles gebrauchen. Auf einem Kindergeburtstag lernt er den als Animator engagierten Agostino kennen. Agostino ist wenig älter als Yuri und ein Lebenskünstler. Er zieht mit seinem Camper durch die Welt, verdingt sich mal als Kinderbetreuer, mal als Farmarbeiter und hängt mit Aussteigern und Ravern ab. Er fragt Yuri, ob er mitkommen möchte, und der willigt ein.
Patagonien ist das gemeinsam erkorene Sehnsuchtsziel. Doch ihre Beziehung gestaltet sich schwierig. Yuris zurückhaltende Gutmütigkeit vermag Agostinos unbekümmertes Draufgängertum zwar zu ergänzen, doch gleichzeitig stehen sich die beiden auch gegenseitig im Weg. „Patgonia“ ist ein heftiger, brutaler, zugleich aber auch zärtlicher Liebesfilm und erhielt den Preis der Ökumenischen Jury.
Die spezielle Erwähnung der Ökumenischen Jury ging an „Do Not Expect Too Much of the End of the World“ vor Radu Jude. Das Road Movie um die Assistentin einer Filmproduktionsfirma, die im Van durch Bukarest kurvt, ist neben „Stepne“ der große Gewinner des 76. Locarno Film Festivals; der Film holte auch den Spezialpreis der Jury und den ersten Preis der Jugendjury.
Fast ebenso nonstop unterwegs wie
die Protagonistin von „Do Not Expect Too Much of the End of the World“ sind die
Straßenkinder in „Nuit obscure – Au revoir ici, n’import où“ und die
Hauptfigur in „Critical Zone“. Amir kurvt, geleitet von einer
GPS-Stimme, durch den Straßenwirrwarr von Teheran. Er transportiert Drogen und
anderes. Von Großlieferanten zu Kleindealern und manchmal gar zu einzelnen
Kunden. Er hat eine eigene Wohnung und einen Hund, der diese bewacht. Sie ist
ihm Zuflucht und Ruhestätte. Meist aber ist Amir im Auto unterwegs. Er nimmt
einen Zwischenhändler mit, holt am Flughafen eine Flugbegleiterin ab. Er
verteilt an die Junkies unter einer Brücke Joints und begleitet eine
alleinerziehende Mutter nach Hause, wo er deren Sohn mittels eines speziellen
Cocktails von seinem schlechten Trip herunterholt. „Critical Zone“ ist
unbeschönigt, schnell und hart. Und überrascht mit einer absurden Szene, in der
das wohlige Gestöhn einer Frau unvermittelt ins haarsträubende Angstgekreische
eines von unheimlichen Monstern bevölkerten Gruselfilms übergeht.
Ali Ahmadzadeh hat mit „Critical Zone“ den „Goldenen Leoparden“ gewonnen. Eine spezielle Erwähnung der Jury ging an „Nuit obscure – Au revoir ici, n’import où“ von Sylvain George, der an der Schnittstelle von Dokumentation und Fiktion das Leben von Straßenkindern im Grenzgebiet zwischen Marokko und der spanischen Enklave Melilla schildert. Die beiden geschlechterneutral vergebenen Preise für die beste Darstellung gingen an Renéé Soutendijk in „Sweet Dreams“ und Dimitra Vlagopoulou in „Animal“.
Deutsche Film in Locarno
Zu erwähnen sind auch die beiden deutschen Beiträge „Touched“ von Claudia Rorarius und „Ein schöner Ort“ von Katharina Huber. „Touched“ schildert eine zwischen Verzweiflung und (übergriffiger) Zärtlichkeit changierende Beziehungsgeschichte zwischen einem Querschnittpatienten und einer übergewichtigen Pflegerin. „Ein schöner Ort“ spielt in einem abgelegenen Dorf, in dem Menschen verschwinden, und erzählt vor dem Hintergrund eines angekündigten Raketenstarts von der allgegenwärtigen Vernichtung der Erde. Im Zentrum stehen die Freundinnen Margarita und Güte, von denen die eine ein Outlaw-Leben beginnt, während die andere aus ihrer Dorfexistenz heraus den Weg in die Freiheit sucht. „Touched“ und „Ein schöner Ort“ sind in ihrer Machart und Erzählweise sehr unterschiedlich, aber überaus verstörend. Was auch daran liegt, dass in beiden Filmen der zärtlichen körperlichen Annäherung jeweils unvermittelt Leere und Enttäuschung und haltlose Wut folgen.
Katharina Huber gewann mit „Ein schöner Ort“ den Preis als beste Nachwuchsregisseurin, Clara Schwinning wurde der Preis als beste Darstellerin zuerkannt. Gemeinsam mit einem Darstellerpreis bedacht wurden Isold Halldórudóttir und Stavros Zafeiris für ihre Darstellungen in „Touched“.
Als letzter Film des 76. Locarno
Film Festival wurde auf der Piazza Grande „Citizen Kane“ von
Orson Welles gezeigt. Einen schöneren Film hätte der langjährige Präsident dem
Publikum von Locarno zum Abschied nicht schenken können.
Die Preise des 76. Locarno Film Festival
Preise im Internationalen Wettbewerb
Goldener Leopard: „Critical Zone“ (Mantagheye bohrani) von Ali Ahmadzaheh
Preis der Jury „Do Not Expect Too Munch of The End Of The World“ von Radu Jude
Lobende Erwähnung „Nuit obsure – au revoir, ici,N’importe où“ von Sylvain George
Beste Regie Maryna Vroda für „Stepne“
Beste darstellerische Leistung Dimitra Vlagopoulou in „Animal“
Beste darstellerische Leistung Renée Soutendijk in „Sweet Dreams“
Preise in der Sektion „Filmmakers of the Present“
Bester Film „Dreaming & Dying“ (Hao Jiu Bu Jian) von Nelson Yeo
Lobende Erwähnung „Excursion“ (Ekskurzija) von Una Gunjak
Beste Regie Katharina Huber für „Ein schöner Ort“
Beste darstellerische Leistung Clara Schwinning in „Ein schöner Ort“
Beste darstellerische Leistung Isold Halldórudóttir, Stavros Zafeiris in „Touched“
Preise im „Schweizer Wettbewerb“
Bester Film „Night Shift“ von Kayije Kagame, Hugo Radi
Bester Kurzfilm „Letzte Nacht“ von Lea Bloch
Preise der Ökumenischen Jury
Bester Film „Patagonia“ von Simone Bozzelli
Lobende Erwähnung „Do Not Expect Too Much Of The End of The World“ von Radu Jude
Weitere Preise
FIPRESCI-Preis „Stepne“ von Maryna Vroda
European Cinemas Award „Yannick“ von Quentin Dupieux
Hinweis
Aufzeichnungen von Filmdiskussionen, Preisverleihungen, Panels und Gesprächen finden sich auf der Website des Festivals.