© La Biennale 2023/Greta De Lazzaris (aus „Io Capitano“)

Venedig 2023 - Bad Guys & Flüchtende

Weitere Notizen von der 80. „Mostra“ mit Beobachtungen zu den Filmen von Woody Allen, Sofia Coppola, Agnieszka Holland, Matteo Garrone und Ava DuVernay

Veröffentlicht am
13. September 2023
Diskussion

Die Premiere von Woody Allens „Coup de Chance“ wurde beim Filmfestival Venedig von Protest begleitet. In der zweiten Festivalhälfte der 80. „Mostra“ schlug aber endlich auch die Stunde der Regisseurinnen, mit Sofia Coppolas „Priscilla“ und Agnieszka Hollands „Green Border“.


Woody Allen ist mit seinen 87 Jahren mehr denn je eine schmächtige Erscheinung. Sein Auftritt beim Filmfestival in Venedig, wo er seinen neuen Film „Coup de Chance“ vorstellte, erregte aber viel Aufsehen. Was vor allem an Protesten lag, die seinen Auftritt begleiteten.

Schon im Vorfeld der 80. „Mostra“ hatte es Kritik gegeben, dass Filme der von Vergewaltigungs- beziehungsweise Missbrauchsvorwürfen überschatteten Regisseure Roman Polanski, Luc Besson und Woody Allen ins Programm aufgenommen wurden. Bei der Premiere von „Coup de Chance“ kam es dann erneut zu einer kleinen Demonstration von Aktivistinnen; bei der Pressevorführung wie bei der festlichen Abendgala des mittlerweile 50. Spielfilms von Allen gab es hingegen viel Applaus. „Coup de Chance“ besitzt zwar nicht die Wucht früherer Woody-Allen-Highlights wie „Match Point“ (mit dem der Film motivisch eine gewisse Ähnlichkeit hat), ist als Krimikomödie auf unangestrengt-süffisante Weise aber ein rundes Alterswerk. Eine großbürgerliche Ehefrau lässt sich darin von einem früheren Freund auf romantische Abwege locken, während ihr kontrollsüchtiger Ehemann ungeahntes kriminelles Potenzial entfaltet.


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So wichtig der Kampf gegen Misogynie und Missbrauchskultur (nicht nur) in der Filmbranche auch ist, so wenig konstruktiv erweist es sich, ein ums andere Mal auf die ein halbes Jahrhundert zurückliegende Causa Polanski einzuprügeln. Oder, wie im Fall von Luc Besson und Woody Allen, auf Vorfälle zu insistieren, deren Missbrauchsvorwürfe vor Gericht nicht erhärtet werden konnten; entsprechende Prozesse endeten für beide Regisseure mit Freisprüchen. Den strukturellen Missständen, die übergriffiges Verhalten ermöglichen, dürfte damit kaum beizukommen sein.

Coup de Chance (© Gravier Prod./Dippermouth)
Coup de Chance (© Gravier Prod./Dippermouth)

Auf die hinteren Plätze verwiesen

Aus feministischer Sicht deprimierend ist hingegen der Mangel an weiblichen Stimmen. Von den knapp über 400 gezeigten Filmen (inklusive der Kurzfilme) stammt bei der 80. „Mostra“ nur ein knappes Drittel von Regisseurinnen; im Wettbewerb als der prominentesten Sektion sieht es noch schlechter aus. Dort verwies zudem die Programmierung die Filmemacherinnen auf die hinteren Plätze. In den ersten Festivaltagen, wenn der Rummel und die Aufmerksamkeit besonders groß sind, lief kein einziger Film einer Regisseurin. Erst in der zweiten Festivalhälfte konnten Frauen wie Sofia Coppola und Agnieszka Holland zeigen, was sie können. Und das ist ziemlich viel.

Nach „Maestro“ lief mit Coppolas „Priscilla“ der zweite biografische Film rund um eine Künstler-Ehe. Auf der Basis von Priscilla Presleys Memoiren „Elvis and Me“ zeichnet der Film die Beziehung vom Kennenlernen während Elvis Presleys G.I.-Stationierung in Bad Nauheim Ende der 1950er-Jahre bis zur Scheidung in den 1970er-Jahren nach. Priscilla Presley, die den Film zur Premiere bei der „Mostra“ begleitete, attestierte Coppola, dass sie „ihre Hausaufgaben“ gemacht habe. Die Regisseurin entfaltet zusammen mit den bravourösen Darstellern Cailee Spaeny und Jacob Elordi ein sehr differenziertes Bild der schon allein durch den Altersunterschied und die anfängliche Minderjährigkeit von Priscilla Presley höchst ungleichgewichtigen Beziehung.

Coppolas Faible für die Ding- und Warenwelt, etwa Kleider oder Interieurs, wird hier wie schon in „Marie Antoinette“ zum ausdrucksstarken Medium. Die Frau, die von dieser Dingwelt umgeben ist, droht selbst zum Objekt zu werden, das kaum eigenständigen Handlungsraum besitzt. Wie die österreichische Prinzessin in der französischen Hofgesellschaft gerät Priscilla Presley in Coppolas Rekonstruktion in ein Umfeld, in dem sie auf der Ranch Graceland wie in einem goldenen Käfig – hier eher eine pastellfarbene Blase – festsitzt. Wobei ihre Liebe zu Elvis Presley parallel zu dessen drogeninduziertem Niedergang mehr und mehr zu einem in Watte gepackten Albtraum wird. Über das konkrete Porträt hinaus erzählt Coppola nebenbei sehr viel über die destruktiven Mechanismen missbräuchlicher Beziehungen.

Priscilla (© Philippe Le Sourd)
Priscilla (© Philippe Le Sourd)

Eine grauenhafte Dosis Realität

Das genaue Gegenteil von in Watte gepackt ist „Green Border“ von Agnieszka Holland. Es ist ein Film wie ein Schlag in die Magengrube, mit einer schwer erträglichen Dosis an grauenhafter, beschämender Realität. Der in Schwarz-weiß gedrehte, auf künstliche Emotionalisierungen weitgehend verzichtende Film spielt zu großen Teilen in einem Waldstück an der Grenze zwischen Polen und Belarus. Er wirft Schlaglichter auf das Flüchtlingsdrama, das sich seit Jahren an dieser „grünen Grenze“ abspielt. Viele Migranten aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern versuchen hier, ermutigt durch die belarussische Regierung unter Lukaschenko, anstelle der Route über das Mittelmeer in die Europäische Union zu gelangen.

Holland beleuchtet dieses Drama aus drei unterschiedlichen Perspektiven. Das erste Kapitel folgt einer syrischen Familie mit Vater, Mutter, Großvater und drei Kindern sowie einer Afghanin bei der zunächst hoffnungsvollen, dann immer mehr zur grotesken Höllenfahrt werdenden Reise, die im ewigen Hin und Her zu versanden droht, wenn belarussische Grenzschützer die Migranten nach Polen jagen, wo sie umgehend und im Zweifelsfall auch mit brutaler Gewalt wieder hinter die Stacheldrahtbarrikaden nach Belarus befördert werden. Das zweite Kapitel nimmt einen der polnischen Grenzschützer genauer in den Blick, um die Hintergründe und die bröckelnden politischen Direktiven und die persönlichen Selbstrechtfertigungen zu beleuchten, mit denen die allen Menschenrechten spottenden Vorgänge bemäntelt werden. Das dritte Kapitel stellt eine Gruppe von Aktivisten und Aktivistinnen ins Zentrum, über die vom zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen das Unrecht erzählt wird – womit der Film, bei aller Härte, dann doch auf einem hoffnungsvollen Akkord endet.

Gerade dieser multiperspektivische Ansatz macht „Green Border“ besonders packend, mehr noch als den sehenswerten Film „Io Capitano“ von Matteo Garrone, der von der Flucht zweier senegalesischer Jugendlicher über die Mittelmeerroute erzählt und dabei trotz aller Härten den Trost einer klassischen Heldenreise gewährt.

The Green Border (© Metro Films/Astute Films)
The Green Border (© Metro Films/Astute Films)

Politische Analyse trifft Melodram

Als politisch brisant, aber formal weniger überzeugend entpuppte sich das Drama „Origin“ von Ava DuVernay, der sich mit der Historikerin Isabel Wilkerson und der Entstehung ihres Buchs „Caste: The Origins of Our Discontents“ auseinandersetzt. Der Film scheitert daran, der Analyse unterdrückerischer Strukturen in Spielfilm-Form beizukommen, in der Parallelen zwischen dem US-Rassismus, der NS-Judenverfolgung sowie dem indischen Kastensystem gezogen werden. Um zu verhindern, dass die politische Analyse allzu trocken oder theoretisch ausfällt, überkompensiert DuVernay die Inszenierung mit emotionalisierenden Elementen. Dabei wird arg hölzern mit Reenactment gearbeitet und Wilkersons Lebensgeschichte, vor allem tragischen Verlusten, allzu viel melodramatischer Raum gegeben.

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