Drama | Deutschland/Schweiz 1993 | 108 Minuten

Regie: Hans W. Geissendörfer

Vor zahlreichen Zeugen erschießt ein Schweizer Regierungsrat einen Juristen, wird rechtmäßig verurteilt, betreibt aber mit einem jungen Rechtsanwalt ein Wiederaufnahmeverfahren. Was als intellektuelles Gedankenspiel beginnt, erweist sich bald als Instrument einer ausgeklügelten Racheaktion, die ihre Opfer fordert. Sorgfältig inszenierte und hervorragend gespielte Verfilmung eines Romans von Friedrich Dürrenmatt, die Fragen nach Recht und moralischer Gerechtigkeit stellt. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
JUSTIZ
Produktionsland
Deutschland/Schweiz
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
GFF/LUNA/BR/SDR/DRS
Regie
Hans W. Geissendörfer
Buch
Hans W. Geissendörfer
Kamera
Hans-Günther Bücking
Musik
Frank Loef
Schnitt
Annette Dorn
Darsteller
Maximilian Schell (Isaak Kohler) · Thomas Heinze (Felix Spät) · Anna Thalbach (Helene Kohler) · Mathias Gnädinger (Kommandant) · Norbert Schwientek (Rudolph Stüssi-Leupin)
Länge
108 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Gerichtsfilm | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Alle Jahre wieder wagt sich Hans W. Geißendörfer aus der (auch finanziell) sicheren "Lindenstraße" hervor und läßt sich den kalten Kinowind um die Nase blasen. Nach "Bumerang, Bumerang" (fd 27 967) und "Gudrun" (1991) hat er nun einen Kriminalroman von Friedrich Dürrenmatt adaptiert, jenern Schweizer Autor, der schon die Vorlagen für die beachtlichen Kriminalfilme "Es geschah am hellichten Tag" (fd 7 206) und "Der Richter und sein Henker" (fd 20 778) lieferte. Beides waren keine lupenreinen Krimis, sondern eher psychologische Vexierspiele um das Verhältnis zwischen Täter und Opfer sowie das Vermögen, sich in die Vorstellungswelt eines Mörders hineindenken zu können. Auch in "Justiz" geht es nicht um die klassische Verrätselung eines Krimi-Plots, dieser offenbart sich bereits in den ersten Filmminuten und wird in aller Klarheit auch gelöst: es geht vielmehr um die Frage nach Gerechtigkeit, die jenseits aller Rechtssprechung geklärt werden muß. Es geht um ein moralisches Anliegen, und es zeigt sich, wie ambivalent Moral sein kann.

Vor den Augen der Zürcher Honoratioren -etwa 70 Zeugen sind anwesend, unter ihnen der Polizeipräsident und der Staatsanwalt -erschießt Regierungsrat Kohler den Jura-Professor Winter. Dieser saß mit seinem ehemaligen Studenten Felix Spät im ehrwürdigen Restaurant "Du Theatre" und läßt nach erfolgtem Schuß zwischen die Augen den Kopf in die Suppe sinken. Spät ist Augenzeuge und erhält, nachdem der Täter, der sich quasi freiwillig stellt, zu 20 Jahren verurteilt wird, die Chance seines Lebens. Der mittellose Rechtsanwalt-Eleve, der sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt, wird von Kohler engagiert, den Prozeß erneut aufzurollen. Das ist zunächst nur ein Gedankenspiel: Was wäre, wenn Kohler unschuldig wäre? Die Tatwaffe wurde schließlich nie gefunden, und selbst 70 Zeugen könnten sich - ganz großer Konjunktiv - ja auch irren. Weil er Geld braucht und weil ihm Kohlers Tochter Anna sexuell tüchtig "einheizt", übernimmt Spät den dubiosen Auftrag. Über Nacht ist er Stadtgespräch, hat -dank Kohlers finanzieller Unterstützung - eine luxuriöse, bald gut florierende Kanzlei nebst Sekretärin und denkt nicht im Traum daran, daß er Kohlers Prozeß gewinnen könnte. Doch seine routinemäßigen Nachforschungen bringen Sand ins Getriebe des Geld- und Karriereadels. Unwissentlich trägt er eine schmutzige Schuld-Schicht nach der anderen ab. Die Tochter des Ermordeten lebt unter falschem Namen mit einem Finanzjongleur zusammen, der die Millionen jener zwergenhaften Frau durchgebracht hat, deren sexuelle Fantasie sie erfüllen soll. Bald macht sich Angst breit, und als die Zeitungen die Meldung lancieren, Spät werde Kohlers Unschuld beweisen, bricht Panik aus. Winters Tochter wird ermordet, im Wiederaufnahmeverfahren ist der Finanzier Dr. Benno zum Hauptverdächtigen avanciert. Benno nimmt sich das Leben, die Zwergin kommt beim Brand ihrer Villa um. Die Eigendynamik des Falles wirft Spät aus dem Gleis. Er pflegt schlechten Umgang, trinkt, verliert Kanzlei und Zulassung und versucht am Ende nur noch, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, d.h. seinen ehemaligen Mandanten hinter Gitter zu bringen. Doch er scheitert auf allen Ebenen. Sein Versuch, das rechtliche Gleichgewicht gewaltsam herzustellen, gerät zur Farce.

Geißendorfer erzählt die Geschichte einer kalt kalkulierten Rache, die auf ein grauenhaftes Verbrechen folgt, und er lotet dabei die Grenzen zwischen gesetzlich verankertem Recht und persönlich empfundener Gerechtigkeit aus. Diesem Spannungsfeld ist Dürrenmatts Roman verpflichtet, und der Film versucht, die Diskrepanz zwischen den beiden Idealen deutlich zu machen. Da wird die gesellschaftlich berechtigte Forderung nach gleichem Recht für alle ebenso thematisiert wie die nachvollziehbare Hoffnung auf individuelle Gerechtigkeit. Das starre Recht der Gesetzesbuchstaben wird gegen das wandelbare der jeweiligen moralischen Haltung ausgespielt. Geißendörfer hat diesen großen moralischen Disput als ein faszinierendes intellektuelles Spiel angelegt, dessen gediegene Inszenierung auf ein Ende zuläuft, das mehrere Seiten hat - wie die meisten Dinge in einer Welt, die immer schwerer zu durchschauen ist. Die Gerechitigkeit siegt, und sie siegt eben nicht, und der große Verlierer ist Junganwalt Spät, der lädiert und um einige Ideale ärmer ein neues Leben beginnen muß. Maximilian Schell, der "Der Richter und sein Henker" noch selbst inszenierte, ist faszinierend in der Rolle des Regierungsrats Kohler, der auch im Gefängnis noch alle Vorteile seines Standes genießt und seine Gegner, stets freundlich lächelnd und die Ruhe selbst, als versierter Billard-Spieler "à la bande" versenkt; allein seine Leistung lohnt schon den Kinobesuch. Hervorragend aber ebenso Thomas Heinze als naiver Jung-Anwalt Spät, der glaubt, das große Spiel zu beherrschen, in Wirklichkeit aber über alle Billard-Tische gezogen wird.

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