Jud Süß - Film ohne Gewissen

Drama | Deutschland/Österreich 2010 | 120 Minuten

Regie: Oskar Roehler

Ende der 1930er-Jahre umwirbt NS-Propagandaminister Joseph Goebbels den Schauspieler Ferdinand Marian, den er als Hauptdarsteller für den Film "Jud Süß" von Veit Harlan gewinnen will. Dieser willigt schließlich ein, in der Absicht, den Protagonisten zum Sympathieträger zu machen. Doch genau diese Eitelkeit nutzen Goebbels und Harlan, um die antijüdische Hetzwirkung des Films noch zu steigern. Eine filmhistorisch raffiniert zusammengefügte Groteske, die mit den Mitteln der Daily Soap inklusive einer trivialisierten Schwundstufe des Melodrams nach der Verantwortung der deutschen Filmindustrie während des Dritten Reichs fragt. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Österreich
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Clasart Filmprod./Tele München/Novotny & Novotny Filmprod./Tara Film/Lotus-Film/Ulrich Seidl Film Prod.
Regie
Oskar Roehler
Buch
Klaus Richter
Kamera
Carl F. Koschnick
Musik
Martin Todsharow
Schnitt
Bettina Böhler
Darsteller
Tobias Moretti (Ferdinand Marian) · Martina Gedeck (Anna Marian) · Moritz Bleibtreu (Joseph Goebbels) · Justus von Dohnányi (Veit Harlan) · Armin Rohde (Heinrich George)
Länge
120 Minuten
Kinostart
23.09.2010
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Historienfilm
Externe Links
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Diskussion

In den letzten Jahren hat man sich beinahe daran gewöhnt, dass Joseph Goebbels zur Paraderolle für deutsche Schauspieler geworden ist. Ulrich Mühe stellte ihn in „Goebbels und Geduldig“ (2001) dar, Olli Dittrich in „Stauffenberg“ (2004), darauf folgte Ulrich Matthes in „Der Untergang“ (fd 36 679) und schließlich Sylvester Groth, der sein durchtriebenes Rumpelstilzchen aus „Mein Führer“ (fd 37 968) für „Inglorious Basterds“ (fd 39 417) noch einmal auflegte. Aber wie spielt man diese Figur? Als kalten Fanatiker wie Matthes oder doch lieber wie Groth als Teufel, der sich hinter einer Maske aus Jovialität verbirgt? Moritz Bleibtreu hat sich in „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ seinen eigenen Reim darauf gemacht. In einer großartigen Szene lobt Veit Harlan den Reichsminister mit den Worten: „Sie hätten Schauspieler werden sollen.“ Worauf der lachend erwidert: „Das bin ich doch!“ Als erklärter Schauspieler kann Goebbels, so wie Bleibtreu ihn spielt, alle Register ziehen. Erst umschmeichelt er Ferdinand Marian, den widerspenstigen Kandidaten für die Hauptrolle in Harlans berüchtigtem Hetzfilm „Jud Süß“ (1940), dann lässt er ihn am ausgetreckten Arm verhungern; er küsst Marians halbjüdischer Frau die Hand – und schickt sie ohne mit der Wimper zu zucken ins Verderben. Mal ist er Knallcharge, mal großer Mime, aber seinen ahnungslosen Mitspielern immer einen Schritt voraus. In seinem Reich drückt er allein die Knöpfe und genießt es sichtlich, auf der Kommandobrücke einer florierenden Filmindustrie zu stehen. Das geht bis ins Obszöne, wenn sich Goebbels unter dem Schreibtisch oral befriedigen lässt, und ist gerade deshalb durchaus stimmig. Roehler treibt hier die Frage um, wieso so viele deutsche Filmkünstler im „Dritten Reich“ geblieben sind und es sich in der verordneten Operettenseligkeit gemütlich machten. Aus diesem Grund trimmt er seine Bilder auf den historischen Agfa-Farbton und lässt einen Querschnitt der Ufa-Elite antreten, um fröhlich auf dem Vulkan zu tanzen. Veit Harlan, Heinrich George, Werner Krauss, Kristina Söderbaum – sie alle wollen es offenbar nicht besser wissen und blenden die mörderische Wirklichkeit hinter den Studiokulissen erfolgreich aus. Ferdinand Marian ist bei Roehler genauso schwach wie sie. Aber er erkennt seine Schuld und zerbricht daran. Auf der „Berlinale“ 2010 hat deswegen auch nicht Moritz Bleibtreus unverschämt unterhaltsame Goebbels-Darstellung für Aufregung gesorgt, sondern die künstlerische Freiheit, die sich Oskar Roehler und sein Drehbuchautor Klaus Richter mit der Lebensgeschichte Ferdinand Marians nehmen. Bei ihnen glaubt der Darsteller des Juden Süß bis zur Premiere, dass er gegen die Intentionen von Goebbels und Harlan anspielen kann. Als er mit ansehen muss, wie sein Film junge deutsche Soldaten gegen die jüdische Bevölkerung aufhetzt, versinkt er im Suff, verliert alles und fährt schließlich in den Tod. Das stimmt so weit, wie der reale Marian später seine Mitwirkung an „Jud Süß“ bereute. Aber er war weder ein Verstoßener des Dritten Reichs, noch zog er sich in die innere Immigration zurück. Im Gegenteil: Bis Kriegsende war er gut im deutschen Filmgeschäft. Für Roehler ist der unverbesserliche Schürzenjäger Marian selbst ein Verführter. Er ist schuldig geworden, ohne dass Blut an seinen Händen klebt, ist ein Sünder, der erst bereut, als alles bereits verloren ist. Vor allem steckt in der Marian-Figur aber eine Allegorie auf die deutsche Filmindustrie, die sich so bereitwillig vor den Karren der Nazis spannen ließ. Am Ende ist er sogar das gute Gewissen der Ufa, weil es ihm so schlecht ergeht. Es gibt einige Hinweise im Film, dass Roehler eigentlich eine Sex-Farce drehen wollte, das erotische Duell zweier Parvenüs, in dem der Skrupellosere gewinnt. Über Goebbels weiß man, dass er den weiblichen Stars und Sternchen auf eine Weise nachstellte, die den aufgekratzten Frohsinn so vieler Ufa-Produktionen in einem anderen Licht erscheinen lässt. In der gewagtesten Szene versucht Roehler, diese Obszönität in geradezu fassbinderscher Manier zu greifen: Bei der Berliner Premiere von „Jud Süß“ stiehlt sich Marian mitten im Bombenalarm mit der Ehefrau eines KZ-Kommandanten in die oberen Stockwerke davon. Im Schein der brennenden Hauptstadt wünscht sich die Frau nichts sehnlicher als von Marian, dem Juden, vergewaltigt zu werden, und der Schauspieler belässt sie gerne in ihrem falschen Glauben. Problematischer als diese groteske Fantasie sind die jüdischen Figuren, die Roehler und Richter in Marians Biografie geschmuggelt haben. Ein erfundener Schauspieler namens Adolf Wilhelm Deutscher taucht in „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ immer wieder und an den unmöglichsten Stellen als eine Art Lenor-Gewissen und personifizierte Anklage auf. Ein ärgerlicher Missgriff ist die Verwandlung von Marians Ehefrau in eine Halbjüdin. Hier schielt Roehler auf das ganz große Melodram, doch wäre diesem Ansinnen auch mit einer weniger verfänglichen Figur gedient gewesen; mit einer Kommunistin beispielsweise oder einfach mit einer moralisch integeren Deutschen. Ist der Film deswegen ein Skandal? Eher nicht. Oskar Roehler dehnt die Grenzen der künstlerischen Freiheit, um seiner Hauptfigur eine tiefere Tragik zu verleihen, als es dem realen Marian vermutlich zusteht. Er wollte nicht die Geschichte eines Mitläufers erzählen, sondern das dunkelste Kapitel des deutschen Films neu lesen. Dabei ist er oft auf halbem Wege stehen geblieben, vielleicht, weil ihn die Angst vor der eigenen Courage erfasste. Ein interessanter Versuch ist sein Film trotzdem; außerdem hat er einen weiteren Beweis dafür geliefert, dass nicht nur Hollywood schillernde Nazis besetzen kann.

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