Der Name der Leute

Komödie | Frankreich 2010 | 103 Minuten

Regie: Michel Leclerc

Ein stiller Ornithologe mit jüdischen Wurzeln und eine fröhlich-unbekümmerte junge Frau algerischer Abstammung verlieben sich trotz großer charakterlicher Unterschiede ineinander. Eine durchaus tiefschürfende, dabei aber stets leichthändige Liebeskomödie, bei der politische Positionen und historische Traumata wie Holocaust und Algerienkrieg in die Reflexion des linksliberalen Frankreichs ebenso einfließen wie Debatten um ethnische, religiöse und geschlechtliche Identitäten. Die romantische Liebes-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte besticht durch klugen Witz und eine optimistische Grundhaltung. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LE NOM DES GENS
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Delante Films/Karé Prod./TF 1 Droits Audiovisuels
Regie
Michel Leclerc
Buch
Baya Kasmi · Michel Leclerc
Kamera
Vincent Mathias
Musik
Jérôme Bensoussan · David Euverte
Schnitt
Nathalie Hubert
Darsteller
Sara Forestier (Bahia Benmahmoud) · Jacques Gamblin (Arthur Martin) · Carole Franck (Cécile Benmahmoud) · Zinedine Soualem (Mohamed Benmahmoud) · Michèle Moretti (Annette Martin)
Länge
103 Minuten
Kinostart
14.04.2011
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Komödie
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Diskussion
„Mein Name ist Arthur Martin. Es gibt in Frankreich 15.207 Menschen mit demselben Vornamen.“ Mit diesen ersten Worten lernt man eine der beiden Hauptfiguren des Films kennen. Damit ist zugleich auch zweierlei angesprochen: Namen sagen nicht viel über das Individuelle eines Menschen aus. Und: Es gibt offenbar Leute, für die es ein Problem ist, wenn sie sich nicht deutlich von allen anderen unterscheiden. Diese Fragen, die an den existenziellen Kern des Menschlichen rühren, stehen im Zentrum dieses Films, und doch ist dieser eine ungemein leichte, unterhaltsame Komödie, ein kleines großes Filmwunder an Komik und Intelligenz, das im jüngeren Kino einzigartig dasteht – wann seit Lubitsch, seit Wilder, seit Woody Allen und Monty Python hätte es einen Film gegeben, der ähnlich dem Witz der Worte und dem Verstand seiner Zuschauer vertraut, der nicht auf Klamauk verzichtet, ihn aber sehr dosiert einsetzt und daher nie Gefahr läuft, ihm zu verfallen? Und dem es schließlich gelingt, ganz und gar zeitgemäß zu sein, ja: nichts weniger die geistige Summe der vergangenen Dekade auf die Leinwand zu bringen, ohne an universaler Bedeutung einzubüßen? Man kann das, was Regisseur Michel Leclerc in seinem zweiten, in Frankreich vielfach preisgekrönten Spielfilm geligt, gar nicht genug bewundern. Die zweite Hauptfigur ist Bahia Benmahmoud, die alle ob ihres Vornamens zunächst für eine Brasilianerin halten, die aber einen Algerier zum Vater hat, der nach dem Krieg einwanderte, um Arbeit zu finden. Franzose wurde er durch die Heirat mit einem französischen Hippie-Mädchen, das zunächst vor allem heiratete, wie Bahia erzählt, „weil es alles Französische hasste“, um der Gesellschaft eins auszuwischen und um seine großbürgerliche Familie zu schockieren. Bahia ist eine Erbin dieser Tradition der Post-1968er-Linken, die politisch-undogmatisch ist, aber moralisch auf einem besonders hohen Ross sitzt. Sie macht sich die Welt nicht komplizierter als nötig. Diese besteht für Bahia aus Faschos und Nicht-Faschos. Die Faschos, denen sie persönlich begegnet, bekämpft sie mit ihrer ganz eigenen, unfehlbaren Methode: Sie geht mit ihnen ins Bett. So hat sie schon einige Dutzend „umgedreht“. Eines Tages trifft sie auch auf Arthur. Der sieht aus ihrer Sicht wie ein Fascho aus, entpuppt sich dann aber eher als das, was sie „scheißliberal“ nennt. Arthur ist nämlich Jospiniste, also Anhänger jenes legendären Präsidentschaftskandidaten der französischen Sozialisten, der 2002 das schlechteste Ergebnis aller Zeiten erzielte. Zudem hat Arthur eine jüdische Mutter, die die deutsche Besatzung überlebte, weil sie versteckt wurde. Über das Trauma wurde während Arthurs Kindheit nie ein Wort gesprochen. So ist die Komödie immer wieder von kurzen tragischen Episoden und Momenten durchdrungen – mitunter kann einem das Lachen im Hals stecken bleiben. Schon bevor die beiden ein Paar werden, erzählen sie dem Zuschauer in kurzen, flotten Rückblicken die Geschichten ihrer Eltern und ihrer Kindheit; der Film ist deshalb auch ein Stück humorvoller Politik- und Kulturgeschichte Frankreichs. Im Zentrum steht vor allem jene immer noch modische „Politik der Identität“, die in den letzten 20 Jahren den öffentlichen Diskurs des Westens dominiert hat: Welcher ethnischen, nationalen, religiösen, politischen Gruppe, welcher Erinnerungsgemeinschaft einer angehört und welches Geschlecht er hat, sind wichtiger als persönliche Entscheidungen. Aufschlussreich ist deshalb auch der hübsche Doppelsinn des französischen Titels: „Le nom des gens“, was auch „Der Name der Gene“ heißt. So ist der gesamte Film, so turbulent wie gleichzeitig klug, eine ungemein selbstironische Reflexion des linksliberalen, urbanen Frankreichs, die jedoch weit über Frankreich hinaus die politischen Fallgruben der westlichen Demokratien, den Alltag unserer Medienwelt und des von ihnen oft praktizierten Tabubetriebs zum Thema macht und sarkastisch aufs Korn nimmt. Und: Es ist eine romantische Liebesgeschichte. Denn was könnte es Romantischeres geben als die Liebe zwischen zwei Ungleichen, die sich gegenseitig bereichern und voneinander Dinge lernen, die sie allein nie gelernt hätten? Das Ergebnis ist ein französisch-optimistischer Gegenentwurf zu allen Thesen, die wie in der Sarrazin-Debatte Individuen zu Identitäten vereinfachen und auf Zugehörigkeit reduzieren wollen. Da wird der Film unerhört politisch: „Scheiß’ auf die Wurzeln!“, sagen Arthur und Bahia am Ende, „wir beide, das ist Frankreich. Hybride Vitalität. Die Bastarde, das ist die Zukunft!“
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