Dokumentarfilm | Deutschland/Philippinen 2018 | 90 Minuten

Regie: Alexander Kluge

Assoziationsreicher Essayfilm von Alexander Kluge, der sich über weite Strecken auf ein Mash-up von Khavn de la Cruz’ psychedelischer Dystopie „Alipato“ über eine Kinderbande aus Manila stützt und mit einer großen Fülle unterschiedlichster Assoziationen und Querverbindungen ergänzt. Motive aus früheren Kluge-Filmen, Archivmaterial und eine illustre Riege prominenter Interpreten kreisen auf erfrischend geistreiche Weise um die Themen Faszination, Kindheit und Gewalt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
HAPPY LAMENTO
Produktionsland
Deutschland/Philippinen
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Kairos Film/Rapid Eye Movies
Regie
Alexander Kluge · Khavn de la Cruz
Buch
Alexander Kluge · Khavn de la Cruz
Kamera
Thomas Willke · Thomas Mauch · Erich Harandt · Albert Banzon
Musik
Khavn de la Cruz
Schnitt
Andreas Kern · Toni Werner · Roland Forstner · Stephan Holl · Kajetan Forstner
Länge
90 Minuten
Kinostart
20.06.2019
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm | Experimentalfilm | Filmessay
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Assoziationsreicher Essayfilm von Alexander Kluge, in dem er unter anderem auch Khavn De La Cruz’ psychedelische Dystopie „Alipato“ als eine Art Mash-up integriert.

Diskussion

Dass Alexander Kluge (Jahrgang 1932) nach Jahren mit „Happy Lamento“ wieder einen Film ins Kino bringt, ist an sich schon sensationell. Bedenkt man, dass Kluge in den 1960er-Jahren sein Kino als Fortsetzung der Literatur verstand und Mitte der 1980er-Jahre ins Privatfernsehen wechselte, um dort mit seinen subversiven Oasen Sand in den Programmablauf zu streuen, dann ist die Rückkehr ins schwer kriselnde Kino ein interessanter Schachzug. Eigentlich hätte man von Kluge auch einen Mehrteiler für Netflix erwarten können. Aber vielleicht will er auch nur darauf hinweisen, dass das Kino jetzt wieder als „sozialer Raum“ zur Verfügung steht, wenn der Kommerz auf den Streaming-Portalen abgewickelt wird.

Noch sensationeller als seine Rückkehr ins Kino ist die Flaschenpost, die der notorische Querdenker auf unnachahmliche Weise befüllt hat. Denn „Happy Lamento“ ist ein großer Wurf. In den 1990er-Jahren hatte sich Kluge für seine DCTP-Produktion eingehender mit den Musikstilen „Chicago House“ und „Detroit Techno“ beschäftigt. Zwei Dinge rettet er davon in „Happy Lamento“: das Konzept des Remixes und die Idee einer „Underground Resistence“.

Ein erfrischendes Mash-up

Kluge fungiert in „Happy Lamento“ nicht mehr als alleiniger „Auteur“, sondern hat sich den philippinischen Tausendsassa Khavn de la Cruz als Kollegen dazugeholt, dessen fulminante Pop-Fantasie Alipato - The Very Brief Life Of An Ember vor ein paar Jahren auch in Deutschland einen Kinostart hatte. In „Happy Lamento“ kommt er zur Wiedervorlage und zwar als Mash-up der eindrücklichsten Szenen.

Alipato erzählt von einer gewalttätigen Kinderbande aus Manila, die erst dahingehend gedrillt werden, sich für unverwundbar zu halten und dann bei einem Banküberfall fast komplett ausgelöscht werden. Der Anführer der Bande wird zu 28 Jahren Gefängnis verurteilt. Als er entlassen wird, entbrennt ein Kampf um die Beute. „Alipato“ ist ein wüster, psychedelischer Film, hart an der Grenze, aber voller Sound und Vitalität, atmosphärisch so ziemlich das Gegenteil der fiktionalen Szenen, die Kluge immer gedreht hat, um die Grenze zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem aufzuheben. „Kluge feat. Khavn De La Cruz“, würde man in der Popmusik dazu sagen, wobei „Alipato“ recht viel Raum erhält.

Aus seinem eigenen Fundus speist Kluge Material zu den Themenfeldern „Blue Moon“, „Electric Light“, „Circus“ und „Manila“ ein, in einer Fülle, bei er wie in einer Video-Installation immer wieder auf Splitscreen-Arrangements oder Überblendungen zurückgreifen muss. Seine Poetik des Assoziativen betont noch mehr als sonst den subjektiven Faktor im Kollektiv und verzichtet bis auf wenige Ausnahmen auf seine unvergleichliche Off-Stimme. Dabei greift er auf viele Motive seiner älteren Arbeiten wie etwa die Faszination für Elefanten zurück, lässt den Song „Blue Moon“ in mitunter wunderschönen, teils aber auch lärmenden Versionen einspielen, lädt Helge Schneider, Peter Berling, Heiner Müller, Galina Antoschwskaja, Hannelore Hoger und Sophie Rois zu mal längeren, mal kürzeren Gastspielen ein und präsentiert allerlei illustratives Archivmaterial, das auf unterschiedliche Weise um Faszination, Kindheit und Gewalt kreist.

Afrofuturismus, made in Mühlheim/Ruhr

Wenn es heißt: „Der Zirkus kommt in die Stadt“, wird diese ehedem verheißungsvolle Nachricht durch Bilder der Ankunft Donald Trumps auf dem G20-Gipfel in Hamburg konterkariert. Es wird aber auch ein Bild gezeigt, in dem ein Elefant von Haien attackiert wird, was durchaus als Kommentar zur Situation des Autorenkinos angesichts aktueller Hollywood-Blockbuster taugt. Helge Schneider singt „outta space“ als Euronaut eine freie Version von „Kleine Taschenlampe, brenn!“ von Nena und Markus, einem Song aus der Zeit, als im Zeichen der „geistig-moralischen Wende“ dem Neuen deutschen Film das Wasser abgegraben wurde. Schneider sieht dabei aus wie Sun Ra und erklärt auf Nachfrage, dass Bongos wohl das ideale Instrument an Bord eines Raumschiffs seien. Afrofuturismus, made in Mühlheim/Ruhr.

Natürlich ist auch der Zweite Weltkrieg präsent, wenn erzählt wird, wie mühsam es sich gestaltete, einen Zirkus vor den heranrückenden deutschen Truppen nach Jekaterinburg zu evakuieren. Oder dass Elefanten sich vor 1900 im Gegensatz zu Löwen sehr wohl als Kampftiere dressieren ließen. Und dann ist da noch Heiner Müller, der an eines seiner ganzen frühen, nie publizierten Gedichte erinnert, mit dem zwei Themenfelder des Films zusammengeführt werden: „Schön ist der Mond über Polen – einen Knickschuss lang“.

So kommt hier eins zum anderen. Im direkten Vergleich mit Godards Bildbuch erweist sich Kluge gegenüber der bildungsbürgerlichen Gravität von Godard deutlich frischer und „geistesgegenwärtiger“. Das liegt nicht nur an den Fieberschüben von Khavn de la Cruz! Ein perfektes Comeback!

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