König der Murmelspieler

Drama | USA 1993 | 102 Minuten

Regie: Steven Soderbergh

Auf der Lebensgeschichte des Schriftstellers A.E. Hotchner beruhendes Drama um eine Kindheit im wirtschaftlich gebeutelten St. Louis der 1930-Jahre: Die Familie eines Jungen droht wirtschaftlich vor die Hunde zu gehen; durch eine Erkrankung der Mutter und weil sein Vater für die Arbeit die Stadt verlässt, muss das Kind plötzlich für sich selbst sorgen und versucht verzweifelt, seine Misere in der Schule und vor der Nachbarschaft zu verbergen. Ein in Sepiatönen gehaltener Historienfilm, dem es nicht um eine realistische Darstellung der Wirtschaftskrise geht, sondern um den verzweifelten Versuch eines Kindes, der materiellen Not die eigene Fantasie entegegen zu halten. Dabei geht es auch um die Scham fürs Armsein in einer Gesellschaft, die nichts so bewundert wie den Erfolg von „Self Made Men“. - Ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
KING OF THE HILL
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
Gramercy/Wildwood/Bona Fide
Regie
Steven Soderbergh
Buch
Steven Soderbergh
Kamera
Elliot Davis
Musik
Cliff Martinez
Schnitt
Steven Soderbergh
Darsteller
Jesse Bradford (Aaron Kurlander) · Jeroen Krabbé (Mr. Kurlander) · Lisa Eichhorn (Mrs. Kurlander) · Karen Allen (Miss Mathey) · Spalding Gray (Mr. Mungo)
Länge
102 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
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Heimkino

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Der dritte Spielfilm von Steven Soderbergh aus dem Jahr 1993 erzählt von einer Kindheit im wirtschaftlich schwer gebeutelten St. Louis der 1930-Jahre und von der Scham fürs Armsein in einer Gesellschaft, die nichts so bewundert wie den Erfolg von „Self Made Men“.

Diskussion

Er sei nicht glücklich mit „König der Murmelspieler“ und seinen damals getroffenen stilistischen Entscheidungen, bekannte Regisseur Steven Soderbergh in einem Interview anlässlich der Neuveröffentlichung seines dritten Spielfilms in der Criterion Collection: „König der Murmelspieler“ sei „zu schön“; ein „raueres, schmutzigeres Feeling“ hätte er im Rückblick passender gefunden. Man muss diese Meinung nicht teilen. Der Filmkritiker Roger Ebert bezeichnete das 1993 erschienene Werk als Soderberghs bis dato besten Film. Und auch wenn die Adaption eines autobiografisch geprägten Romans von A.E. Hotchner über eine Kindheit im wirtschaftlich gebeutelten St. Louis der 1930er-Jahre nicht die zeitdiagnostische Schärfe hat, die Soderberghs Debüt „Sex, Lügen und Video“ wenige Jahre vorher auszeichnete, ist „König der Murmelspieler“ ein auch heute noch sehenswerter und berührender Film, der von der Souveränität Soderbergs zeugt, seine filmischen Mittel der jeweiligen Story anzuverwandeln.

Ein kindlicher Überlebenskampf

Zentrum der Handlung ist das „Empire Hotel“, der letzte Halt vor der sozialen Endstation. Aaron Kurlander (Jesse Bradford) lebt dort mit seiner Mutter, seinem Vater und seinem kleinen Bruder in einem billigen Hotelzimmer. Außer ihnen residieren noch andere in dem Etablissement, die während der Depression unter die Räder gekommen sind, geplagt von der Angst, bei ausständigen Mieten vom gnadenlosen Pagen aus dem Zimmer geworfen zu werden und auf der Straße zu landen.

Aarons Vater ist arbeitslos und versucht vergeblich, sich und die Familie mit dem Straßenverkauf minderwertiger Kerzen über Wasser zu halten, während er auf Antworten von diversen Job-Bewerbungen wartet. Als das Geld bei den Kurlanders immer knapper wird, schiebt der Vater zu Aarons großem Kummer den kleinen Bruder an einen Onkel auf dem Land ab, um einen Esser weniger versorgen zu müssen; dann muss die an Tuberkulose erkrankte Mutter in ein Sanatorium.

Als der Vater es tatsächlich schafft, einen Job als Handelsvertreter für Uhren zu ergattern, der ihn aus Missouri fortführt, bleibt Aaron schließlich allein in dem Hotel zurück: am Rand des sozialen Abgrunds, nur mit dem Rückhalt einiger Bekannten aus dem Hotel (unter anderem verkörpert vom noch sehr jungen Adrien Brody), denen es allerdings kaum besser geht als ihm.

Anlehnung ans Kino von Chaplin

Nach seinem Durchbruch als Independent-Wunderkind mit „Sex, Lügen und Video“ und dem Albtraummärchen „Kafka“ drehte Soderbergh mit „König der Murmelspieler“ seine erste Studioproduktion. Tatsächlich wirkt der Film visuell und auch dramaturgisch „glatter“ als die beiden vorangehenden Filme. Das „Beschönigende“ dieser Literaturverfilmung entfaltet jedoch eine durchaus interessante Wirkung: Anstatt das Elend auszustellen und damit das Mitleiden mit den Nöten des jungen Aaron zu forcieren, wie es ein „rauerer“ und „schmutzigerer“ Film getan hätte, tänzelt die Inszenierung immer wieder zwischen Sein und Schein, zeigt die harschen Verhältnisse der Depressionszeit aus dem Blickwinkel eines Kindes, das sie zur Kenntnis nimmt und daran notgedrungen viel zu früh erwachsen wird, sich aber auch mit Fantasie dagegen wehrt.

Das Ergebnis erinnert ein wenig an den Dickens’schen Realismus eines „Oliver Twist“ und auch ans melodramatisch-komisch-sozialkritische Kino von Chaplin – nicht zuletzt in einer Szene, die von fern „Goldrausch“ (1924) herbeizitiert: Am Tiefpunkt angelangt, entkommt Aaron der Obdachlosigkeit nur, indem er sich in dem Hotelzimmer verbarrikadiert; da er so aber nicht an Essen kommen kann, bereitet er sich eine „Mahlzeit“, indem er Fotografien von Speisen aus einem alten Magazin ausschneidet, die Schnipsel auf einem Teller anrichtet und anschließend so genießerisch verzehrt, als hätte er den Geschmack von Mais mit Butter, Steak und Pie tatsächlich im Mund.

Die Scham über die Armut

„Fake it till you make it“: Das praktiziert Aaron auch in anderen Szenen, vor allem gegenüber seinen Schulkameraden. In der Story des Jungen, der ums schiere Überleben kämpft, geht es nicht nur einfach um Armut, sondern auch um die Scham fürs Armsein, um den Wunsch und auch die Notwendigkeit, die eigene Bedürftigkeit zu beschönigen und sie vor einer Gesellschaft, die nichts so sehr bewundert wie Erfolg, tunlichst zu verbergen.

Die beklemmendsten Momente von „König der Murmelspieler“ sind nicht unbedingt jene, in denen die Not des Jungen unmittelbar aufscheint, sondern die, in denen die Tabuisierung der Not fühlbar wird: das Nicht-Nachhaken der Lehrerin (Karen Allen), wenn Aaron ihr eine leicht zu durchschauende Lüge auftischt, um den sozialen Abstieg seiner Familie zu vertuschen; der angestrengt-aufgesetzte Optimismus, mit dem der Vater (Jeroen Krabbé) die Lage der Familie kleinredet, und Aarons eigene Sprachlosigkeit, wenn er Zeuge wird, wie einer seiner Bekannten unter die Räder kommt.

In der ersten Szene erzählt Aaron vor seiner Schulklasse, der offensichtlich die Aufgabe gestellt wurde, ihren „amerikanischen Helden“ auszuwählen und vorzustellen, von Charles Lindbergh – aufgepeppt als eine Art persönlichen Erlebnisbericht, als habe er selbst per Funk den Piloten bei seinem spektakulären Flug begleitet. Die Lehrerin ist begeistert: das ist die Art von Story, die gute Amerikaner hören wollen – von Menschen, die mit Zähigkeit und Durchhaltewillen alle Nöte und Schwierigkeiten überwinden und es letztlich zum großen Erfolg schaffen.

Die dem „König der Murmelspieler“ zugrunde liegende Lebensgeschichte von A.E. Hotchner, der später als Biograf von Ernest Hemingway und Doris Day und mit seinen Drehbuch-Adaptionen diverser Hemingway-Stoffe zu schriftstellerischem Ruhm kam und schließlich als Freund und Nachbar von Paul Newman dessen „Newman’s Own“-Firma mitgründete, ist eine solche Geschichte. Der Film vom Soderbergh entlarvt allerdings den „from rags to riches“-Mythos als genau das: einen „American Dream“, der mit schierem Glück für den ein oder anderen wohl wahr werden mag – für unzählige andere aber nicht.

 

Discografischer Hinweis:

König der Murmelspieler. USA 1993. Regie: Steven Soderbergh. Mit Jesse Bradford, Adrien Brody, Katherine Heigl, Lisa Eichhorn, Karen Allen. 103 Min. FSK: ab 6. Anbieter: Limited Collector's Edition Mediabook (mit ausführlichem Booklet und 60 Minuten Bonusmaterial) als DVD/BD bei vocomo

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