Drama | Schweiz/Kroatien 2020 | 84 Minuten

Regie: Andrea Staka

Eine Frau lebt mit ihren drei Kindern und ihrem Mann in unmittelbarer Nähe des Flughafens in Dubrovnik. Sie liebt ihre Familie, sehnt sich aber auch nach einem Job und mehr Unabhängigkeit. Als sie einen aus Polen stammenden Arbeiter kennenlernt und eine Affäre beginnt, blüht sie auf und träumt von einem anderen Leben. Der ungeschönt raue Film besticht durch seine unaufgeregte Erzählweise und die sorgfältige Darstellung eines im Trott gefangenen Alltags sowie die einfühlsame Schilderung weiblicher Befindlichkeiten. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
MARE
Produktionsland
Schweiz/Kroatien
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Okofilm/Dinaridi Film/ZDF/arte/SRF
Regie
Andrea Staka
Buch
Andrea Staka
Kamera
Erol Zubcevic
Musik
Ephrem Lüchinger
Schnitt
Redzinald Simek · Thomas Imbach
Darsteller
Marija Skaricic (Mare) · Goran Navojec (Duro) · Mateusz Kosciukiewicz (Piotr) · Mirjana Karanovic (Mares Mutter) · Zdenko Jelcic (Mares Vater)
Länge
84 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Ungeschöntes Drama über eine Mittvierzigerin aus der Nähe von Dubrovnik, die sich nach ein wenig mehr Freiheit sehnt und auf eine Affäre einlässt.

Diskussion

Mare, Mitte Vierzig, lebt mit ihrem Gatten Duro und ihren drei Kindern in Konavle an der kroatischen Küste, unweit der An- und Abflugschneise des Flughafens von Dubrovnik. Die Gegend ist hügelig-rau und von einer wilden Schönheit. Die Siedlungen liegen zerstreut in der Landschaft, der Alltag der meisten, die hier leben, ist unaufgeregt und bescheiden. Duro arbeitet am Flughafen, so wie Mare früher, als sie noch nicht Mutter war. Ihre Kinder sind inzwischen schon etwas größer und gehen zur Schule. Eigentlich möchte Mare wieder in ihren früheren Job zurück; das täte auch der Familienkasse gut. Doch Duro meint, dass es dazu noch zu früh sei; die Kinder bräuchten sie noch zuhause.

So putzt Mare also, räumt auf, richtet Betten, kauft ein, kocht, wäscht, hilft bei den Hausaufgaben und sorgt dafür, dass die Kinder rechtzeitig in der Schule, beim Training und auch wieder zuhause sind. In seiner unbeschönigt-realistischen Schilderung des Alltags und der Lebensroutine einer Frau, die sich darin ein wenig gefangen fühlt, erinnert „Mare“ an „Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles“ und andere Filme von Chantal Akerman, aber auch an Filme von Mike Leigh, etwa „Vera Drake“.

Eine persönliche Geschichte

„Mare“ stammt von Andrea Staka und ist nach „Das Fräulein“ und „Cure - Das Leben einer anderen“ ihr dritter Spielfilm. Mehr noch als die beiden vorangehenden schreibt sich „Mare“ in die Biografie und den kinematografischen Kosmos der in Luzern geborenen Regisseurin ein, deren Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt. Während „Das Fräulein“ von der Begegnung einer serbischen Auswanderin mit einer jungen Frau aus Sarajewo in Zürich erzählt und die Protagonisten in „Cure“ nach Ende des Balkankriegs in ihre Heimat zurückkehren, spielt „Mare“ ganz in Kroatien – in der Region, in der ein Teil von Stakas Familie lebt und an den die Regisseurin selbst immer wieder zurückkehrt.

Gedreht wurde „Mare“ im Haus einer Verwandten. Mares drei Kinder werden von einer Nichte Stakas und zwei ihrer Neffen gespielt. Die erwachsenen Darsteller sind nicht mit Staka verwandt, gehören aber zu ihrer „Filmfamilie“. Marija Skaricic (Mare) spielt in „Das Fräulein“ die junge Frau aus Sarajevo und in „Cure“ die Mutter; Mirjana Karanović, die in „Das Fräulein“ die Hauptrolle innehat und in „Cure“ die Großmutter spielt, gibt Mares Mutter. Mares Mann Duro wird von Goran Navojec gespielt, dem Lebenspartner von Marija Skaricic.

So ist „Mare“, obwohl er eine universale Geschichte erzählt, ein sehr persönlicher Film. Staka setzt sich darin mit einer Lebensphase und Fragen auseinander, die sie aus eigener Erfahrung kennt. Dem Heranwachsen und der allmählichen Ablösung der Kinder, welche die Beziehungen innerhalb einer Familie verändern und die Eltern zwingen, ihre eigene Lebenssituation und Partnerschaft neu zu überdenken.

Mare sieht sich durch Duros Wunsch weiterhin an Haus und Herd gebunden. Um das Einkommen der Familie aufzustocken, sammelt sie wilde Kräuter und verkauft diese auf dem Markt. Sie besucht ihre Eltern, schaut ab und zu bei einer Freundin vorbei, die im Supermarkt arbeitet; ihre Gespräche, bei einer Zigarette vor der Tür, handeln von Unterwäsche und kleinen Angelegenheiten des Alltags. Eines Tages begegnet Mare auf der Straße am Rande des Flughafens Piotr. Der kommt aus Polen, leitet Bauarbeiten auf dem Flughafen und erkundigt sich, wo man hier Bier kaufen kann.

Weniger als ein Flirt

Das erste flüchtige Gespräch ist weniger als ein Flirt. Doch nach ein paar Tagen bringt Piotr Mares Waschmaschine wieder auf Vordermann. Die folgenden Treffen der beiden – eine gemeinsame Autofahrt, zufällige Begegnungen auf der Straße, ein kurzes Schäferstünden und schließlich ein gemeinsam verbrachter Abend, während Mares Familie in Split bei einem Fußballspiel weilt, – finden unter klaren, für beide aber sehr unterschiedlichen Bedingungen statt.

Für Piotr, der zuhause Frau und Kinder hat, ist das, was er mit Mare erlebt, eine Romanze, die ihm den Auslandaufenthalt versüßt. Für Mare aber, die ihren Mann und ihre Kinder zweifelsohne liebt und ihre Beziehung zu ihrer Familie auch schützt, wird es irgendwann mehr. Sie kramt ihre lange nicht mehr getragenen Kleider hervor, blüht auf, träumt von einem anderen Leben. Duro beginnt allmählich etwas zu ahnen und stellt Fragen. Der Alltag gerät ein bisschen aus dem Trott. Und plötzlich steckt Mare in einem Dilemma.

Sie erzähle Geschichten von Frauen, weil sie selbst eine Frau sei und die Gefühlswelten, Sorgen und Freuden von Frauen kenne, verriet Staka in einem Interview. Tatsächlich erscheint „Mare“, auf Super 16mm gedreht und im Bild dementsprechend körnig, über weite Strecken wie aus dem echten Leben gegriffen. Die Kamera von Erol Zubcevic ist intuitiv und bewegt, manchmal nah an den Figuren, dann wieder in der Weite von Landschaft und Natur, in die die Geschichte und das Leben der Protagonisten eingebettet sind.

So ruhig wie beschwingt

„Mare“ lebt ganz intensiv von seinen Darstellern. Allen voran der Hauptdarstellerin Marija Skaricic, die vor der Kamera mit erfrischender Natürlichkeit agiert und in deren Mimik sich Mares inneres Erleben unmittelbar spiegelt. Obwohl Mare dem Wunsch ihres Mannes Folge leistet, erscheint sie als starke – und im Rahmen des ihr Möglichen – letztlich auch unabhängige Frau. Was nicht nur das Verdienst der Darstellerin ist, sondern auch das Resultat eines „weiblichen“ Erzählens, das Wertigkeiten nicht unbedingt in Handlungen und Taten misst, sondern in Gefühlen und der Präsenz verortet, einem (Füreinander-) Dasein im Leben.

„Mare“ ist ein ruhiger, aber auch beschwingter Film. Die sorgfältige Licht- und Schattensetzung spielt darin eine genauso wichtige Rolle wie die sehr spät und nur spärlich eingesetzte Musik, die Mares Gefühlzustände apostrophiert. Ganz am Schluss erst erklingt – gefühlschwanger, wehmütig, sehnsuchtsvoll und schmerzlich-schön – Ana Pradas „Soy pecadora“ – „Ich bin eine Sünderin“.

Kommentieren