Drama | Frankreich 2019 | 103 Minuten

Regie: Bertrand Bonello

Ein dunkelhäutiges Mädchen aus Haiti wird in die Literaturgruppe einer katholischen Privatschule in Paris aufgenommen, weil sich seine Familie auf Voodoo-Rituale versteht. Eine der Jugendlichen möchte damit ihren Ex-Freund gefügig machen, was zu magisch-exotischen Brüchen führt. Das vielschichtige Drama wechselt raffiniert zwischen Teenagerkummer, Pop-Kultur und Zombie-Mythen, um von Migration, kultureller Aneignung und der Konstruktion von historischen Projektionen zu erzählen, bis die unterschiedlichen Realitäten in einem gewaltigen Finale kulminieren. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ZOMBI CHILD
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
My New Pict./Les Films du Bal/ARTE France Cinéma/Playtime/
Regie
Bertrand Bonello
Buch
Bertrand Bonello
Kamera
Yves Cape
Musik
Bertrand Bonello
Schnitt
Anita Roth
Darsteller
Louise Labeque (Fanny) · Wislanda Louimat (Mélissa) · Katiana Milfort (Katy) · Mackenson Bijou (Clairvius Narcisse) · Adilé David (Salomé)
Länge
103 Minuten
Kinostart
08.10.2020
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Fantasy
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
absolutMedien
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Vielschichtiges Drama um eine elitäre Teenie-Gruppe aus Paris, die einen Voodoo-Zauber ausprobiert und damit unvorhersehbare Ereignisse lostritt.

Diskussion

Bilder wie aus einem Horrorfilm. Schwarze Wolken verdecken die Sonne oder den Mond. Dazu ein Insert mit einem Zitat des haitianischen Schriftstellers René Depestre: „Hört ihr Weißen, hört meine Zombie-Stimme, zu Ehren unserer Toten.“ Dann sieht man einen hässlichen Kugelfisch auf einem Brett liegen, gefolgt von einer Ortbestimmung: Haiti 1962. Je nach Temperament kann man an Graham Greene, „Papa Doc“ Duvalier, George A. Romero oder „Leben und sterben lassen“ denken. Die Voodoo-Gottheit Baron Samedi wird später im Film einen grandios-eleganten Auftritt hinlegen.

Zunächst aber wird der Fisch zerlegt, seine Innereien mit diversen Kräutern und Schoten zu einem Pulver gemörsert, das dann in geringer Dosis und mit großer Umsicht in ein Paar Schuhe gestreut wird. Die Wirkung ist gravierend: ein junger Mann bricht auf offener Straße nach wenigen Schritten zusammen und stirbt. Es folgt eine schwungvolle Beerdigung nebst trauernder Braut. Ein Schnitt ins Innere des Sarges bereitet auf das Folgende vor: Der Tote wird als wieder zum Leben erweckter Zombie zu einem bewusstlosen, in einer Art Trance befindlichen Arbeitssklaven auf einer Zuckerrohr-Plantage. Sein Name: Clairvius Narcisse. Den kann man googlen.

Rückgriff auf Bilder-Reservoirs

Der französische Regisseur Bertrand Bonello versteht sich auf ein Filmemachen, das auf bestehende Reservoirs an Bildern rekurriert. Er ist ein Choreograf der Vorstellungskomplexe. Solcherart erzählte er von der heroischen Ära der Pornografie und ihrer Gegenwart („Der Pornograph“), von der Blütezeit einer kulturell vermittelten Prostitution und ihrer Gegenwart („Haus der Sünde“), von der Mode („Saint Laurent“) oder vom jugendlichen Terrorismus in der Konsumgesellschaft („Nocturama“). In seinem neuen Film „Zombi Child“ geht es um Geschichte, Geschichtserzählungen, Migration, Fremdheit, Exotismus, kulturelle Projektionen, kulturelle Aneignung und Pop-Kultur.

Von der Zuckerrohr-Plantage springt der Film ins Paris der Gegenwart, ins streng katholische Internat der Légion d’Honneur, einem elitären Gipfel des Eliten reproduzierenden Schulsystems. Hier werden ausschließlich Mädchen unterrichtet, deren Vorfahren für militärische oder zivile Leistungen ausgezeichnet wurden. Deshalb gibt es gleich Geschichtsunterricht für die Elite der „grande nation“, die noch immer für die „Revolution“ steht. Der Geschichtslehrer plädiert für eine nicht-lineare, sprunghafte Geschichtsschreibung, die mit Widersprüchen und Untergründigem zu rechnen versteht. Fast scheint es, als entfalte Bonello hier seine eigene Poetik, die Erzählweise für „Zombi Child“, so wie er für jeden seiner bisherigen Filme jeweils eine spezifische Poetik entworfen hat, die stets mit bekannten Bildern spielten.

Die Historie ist stets mitgedacht

Der Film wechselt vom Genre des Horrorfilms ins Genre des College- und Teenager-Films. Man darf an „Carrie“, „Heathers“ oder auch die Werke von David Hamilton denken. Wenn die Kamera den Klassenraum durchmustert, sticht Mélissa heraus. Sie ist die einzige farbige Schülerin in einer hyper-weißen Gemeinschaft. Mélissa stammt aus Haiti; sie verlor ihre Eltern beim Erdbeben des Jahres 2010 und lebt nun bei ihrer Tante. Auch ihre Mitschülerinnen wundern sich über Mélissas Anwesenheit im Internat, zumal es ihre Mutter war, die die Eintrittskarte löste, weil sie sich gegen die Diktatur auf Haiti engagierte. Schon wieder Geschichte.

Ansonsten scheint Mélissa interessant, hat einen akzeptierten Film-, Musik- und Modegeschmack. Um das Elitäre noch zu toppen, wird sie von den It-Girls um Fanny in die elitäre Literatur-Gang (für zeitgenössische Literatur, versteht sich!) aufgenommen. Sie soll dafür etwas von sich erzählen, was alle anderen Mädchen zutiefst berührt. Mélissa setzt auf Exotismus und performt bei Kerzenlicht: René Depestre. Stichwort: Zombie. Klar, da kennen die Mädchen sich aus. Früher waren die mal langsam, heute sind sie schnell. Wie im „Club der toten Dichter“ gibt es nächtliche Meetings, Gespräche über HipHop (Damso), Horrorfilme und Jungs. Zumal Fanny gerade unsterblich verliebt ist und sich nach einem Wiedersehen mit Pablo sehnt, der als Posterboy inszeniert wird.

Irgendetwas mit Voodoo

Währenddessen wird auch die Geschichte von 1962 parallel weiter ausgeführt, wo Clairvius Narcisse, übrigens direkt mit Mélissa verwandt, durch einen Zufall seinen Bann brechen kann. Er kehrt allerdings nicht in die Gesellschaft zurück, sondern lebt eher als Drifter weiter. Seine Geschichte wird später von Mélissa detailreich nachgereicht. Zurück in Paris trennt sich Pablo von Fanny, die darüber in tiefste Verzweiflung stürzt. Weil aber Mélissa damit angegeben hatte, dass ihre Tante eine Voodoo-Priesterin sei, bringt sie Fanny auf eine Idee. Sie will entweder sterben oder Pablo für immer in sich aufnehmen. Irgendwas mit Voodoo, klar. Im Gespräch mit Mélissas Tante kollidieren unterschiedliche Vorstellungen von Voodoo. Es geht um einen Akt kultureller Aneignung, den Fanny im Gestus kolonialer Macht einfordert. Sie wird zwar gewarnt, dass Voodoo tief in der haitianischen Kultur verankert sei und man damit nicht spaßen dürfe. Doch Fanny bietet mehr Geld und argumentiert ganz hip identitätspolitisch: „Zählt mein Unglück nicht, weil ich weiß und gesund bin? Existiert eine Hierarchie des Unglücks?“

Das Datum für das Voodoo-Ritual, das für Fanny auch ein Schulschwänzen ist, ist allerdings denkbar schlecht gewählt, denn es fällt auf den Tag, an dem auf Haiti traditionell an Clairvius Narcisse gedacht wird, der nicht nur vom Zombie wieder zum Menschen wurde, sondern 1980 schließlich auch zu seiner Braut zurückkehrte und fortan sein zweites Leben auskostete. Bonello wechselt hier kurz ins Genre des ethnografischen Dokumentarfilms und beobachtet dieses Gedenken, während sich in Paris die Ereignisse überschlagen, weil sich die unterschiedlichen Realitäten und ihre Energien zu einem gewaltigen und nicht beherrschbaren transatlantischen Feedback mit einem Auftritt von Baron Samedi potenzieren. Nicht ohne eine gewisse Ironie, denn Baron Samedi spricht gewissermaßen Gangsta-Rap, während Bonello in den „Exorzist“-Modus switcht. Und wenn es auf Haiti 1980 zum unverhofften Wiedersehen von Clairvius Narcisse und seiner Braut kommt, dann singen „Gerry and the Pacemakers“ die Liverpool-Hymne „You’ll never walk alone“, was die Vielzahl von kulturellen wie projektiven Überlagerungen, die „Zombi Child“ so mutig wie elegant in Szene zu setzen weiß, mit einer fantastischen Pointe toppt.

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