Alice oder Die Bescheidenheit

Tragikomödie | Frankreich/Belgien 2019 | 103 Minuten

Regie: Nicolas Pariser

Der Bürgermeister von Lyon ist nach über 30 Jahren in der Politik ausgelaugt und stellt deshalb eine junge Philosophin ein, um Impulse für neue Ideen zu erhalten. Die Beraterin verfügt zwar über keinerlei Erfahrung im politischen Geschäft, dafür aber über einen kreativen Kopf, sodass sie im Ansehen des Stadtoberhauptes bald steigt, womit sich allerdings das politische Establishment düpiert fühlt. Eine elegant inszenierte Tragikomödie mit zwei glänzenden Hauptdarstellern und lebhaften Dialogen, die intellektuelle Mittelmäßigkeit und Routinedenken aufspießen. Dabei geht es dem Film weniger um die aktuelle französische Gesellschaft als um einen Vorstoß, ein erstarrtes politisches System aufzubrechen. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ALICE ET LE MAIRE
Produktionsland
Frankreich/Belgien
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Bizibi/Arte France Cinéma/Auvergne Rhône-Alpes Cinéma/Scope/Les Films du 10
Regie
Nicolas Pariser
Buch
Nicolas Pariser
Kamera
Sébastien Buchmann
Musik
Benjamin Esdraffo
Schnitt
Christel Dewynter
Darsteller
Anaïs Demoustier (Alice Heimann) · Fabrice Luchini (Paul Théraneau) · Nora Hamzawi (Mélinda) · Léonie Simaga (Isabelle Leinsdorf) · Antoine Reinartz (Daniel)
Länge
103 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Tragikomödie
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Tragikomödie um einen ausgelaugten Bürgermeister, der eine junge Philosophin engagiert, um auf neue Ideen zu kommen, damit aber seinen Umkreis düpiert.

Diskussion

Die Wagenkolonne ist eindrucksvoll. Dennoch ist es gar nicht so einfach, in einem der Autos einen freien Platz zu finden. Doch das Stadtoberhaupt von Lyon (Fabrice Luchini) hat Alice (Anaïs Demoustier) ausdrücklich zur Begleitung angefordert. So reißt die junge Frau eine Tür nach der anderen auf, bis sie eine Mitfahrgelegenheit entdeckt und sich mit auf den Weg zur Einweihung eines Denkmals machen kann. Warum sie neben all den Angestellten, Ehrengästen und Journalisten daran teilnehmen soll, weiß sie nicht, doch der Anweisung des Bürgermeisters kann sie sich zu Beginn ihrer Anstellung nicht widersetzen.

Auch wenn sich ihr Part in diesem Fall auf eine reine Zuhörerinnenrolle beschränkt und sie in der Menge der Begleitmannschaft aufgeht, deutet der Bürgermeister auf dem hastigen Weg zum nächsten Termin an, dass er Großes von dem Austausch mit ihr erwarte. Was eine kleine Demonstration der Bedeutung seines Amtes nicht ausschließt: Angesichts eines vollen Kalenders wird Alice schließlich beschieden, sich noch um 22 Uhr für das Gespräch bereitzuhalten.

Ein ausgelaugter Politprofi sucht neue Impulse

Der Anfang von „Alice and the Mayor“ steht ganz im Zeichen des Kontrastes zwischen der gut geölten Maschine der Politik mit ihren Repräsentationsformen und der Erscheinung der mit dieser Sphäre unvertrauten Alice Heimann. Nicht gleichmütig, aber unbeirrt betritt sie das prachtvolle Rathaus von Lyon und lässt sich auch vom ersten Kontakt mit Bürgermeister Paul Théraneau nicht aus der Ruhe bringen. Sein Anliegen ist überraschend. Théraneau fühlt sich nach Jahrzehnten in der Politik innerlich leer und sucht Hilfe, allerdings nicht bei einer politischen Beraterin, Therapeutin oder Ärztin, wie es wahrscheinlich naheliegen würde. Der sozialistische Politiker wünscht sich Impulse von einer Philosophin, eben Alice, die sich allerdings gar nicht so bezeichnen würde. Ihren Studienabschluss in Oxford hat sie zwar in Philosophie (und in Literatur) gemacht, doch sie war bisher eher Lehrerin als philosophische Vordenkerin. Für die Stelle als „Ideenentwicklerin“ sagt sie aber trotzdem zu, auch wenn sie keine Wunder verspricht: „Philosophie ist eine schöne Sache, aber keine Therapie.“

Die Figur des Bürgermeisters Paul Théraneau ist eine ungewöhnliche Erscheinung im jüngeren französischen Kino, das den Politikzirkus oft ambivalent (wie in Pierre Schoellers „Der Aufsteiger“) oder satirisch überspitzt (wie in Bertrand Taverniers „Wildes Treiben am Quai d’Orsay“) und vielfach sogar schlicht negativ zeichnete, als korrupte und den normalen Bürgern entfremdete Bagage wie in der Fernsehserie „Baron Noir“.

Korrumpierende Einflüsse und Konkurrenz um die Macht gibt es auch in „Alice and the Mayor“, doch weder der Bürgermeister noch Alice lassen sich davon vereinnahmen. Der neuen Mitarbeiterin gelingt es im Gegenteil sogar recht bald, in der Hierarchie aufzusteigen, obwohl sie es nicht darauf anzulegt. Als erste Ratschläge bei Théraneau gut ankommen, erhält sie ein eigenes Büro an prominenter Stelle, was den Neid der etablierten Mitarbeiter anheizt. Wenig später überträgt der Bürgermeister ihr auch noch die Leitung von „Lyon 2500“, einem Prestigeprojekt über die zukünftige Aufstellung der altehrwürdigen Stadt, und auch hierbei macht die Quereinsteigerin dank frischer Ideen eine gute Figur.

Ihr Aufstieg gefällt nicht allen: Die PR-Abteilung ist düpiert, der enge Kreis um den Bürgermeister sorgt sich um seine eigene Stellung, ein reicher Unternehmer führt sich auf, als seien die mehr als zweitausend Jahre Stadtgeschichte sein Verdienst und könne „Lyon 2500“ nicht ohne ihn verwirklicht werden; da Alice ihn nicht zurückruft, rückt er ihr schließlich bei einem Empfang unangenehm nahe.

Der Wille zum echten Dialog

Die realen Probleme der französischen Gesellschaft und Politik, die sozialen Proteste oder der massive Vertrauensverlust der etablierten Parteien spielen in der Tragikomödie von Nicolas Pariser allenfalls unterschwellig eine Rolle. Die Inszenierung zielt vielmehr auf eine tiefergehende Kritik an der französischen Politik, die zuerst durch die ausgefeilten Dialoge zwischen Alice und den Vertretern des politischen Establishments offenbar wird, bevor ein Abkömmling der sozialistischen Stammwählerschaft, ein Drucker, explizit die „intellektuelle Mittelmäßigkeit“ der Politiker anspricht: „Sie sind dumm, sie lesen nicht, und sie interessieren sich für nichts!“

„Alice and the Mayor“ will allerdings auf die Ausnahme von der Regel hinaus. Routine und Repräsentationspomp haben auch Théraneau der Einfälle beraubt, doch immerhin erkennt er dies, begreift es als Verlust und bemüht sich um Abhilfe. „Bescheidenheit“ ist das Schlüsselwort, das Alice als erstes in ihre Vorschläge an den Bürgermeister aufnimmt; als Idee taucht es im Laufe des Films immer wieder auf. Die Gespräche mit ihr sind keine Wortgefechte unvereinbarer intellektueller Fronten, sondern - trotz aller Scharfzüngigkeit - vom Willen geprägt, die andere Position zu verstehen.

Visuell nutzt Nicolas Pariser effektvoll die Kontraste innerhalb Lyons, von der majestätischen Architektur der Regierungsbauten und der Oper zum dorfartigen ehemaligen Arbeiterviertel Croix-Rousse, sowie den verschachtelten Aufbau des Rathauses, um die Abgehobenheit der Politiksphäre zu verdeutlichen.

Im Kern ist der Film aber vor allem ein Spiel der Ideen, der elegant fließenden Bewegungen und Dialoge, in dem sich zwei glänzende Darsteller die Bälle zuwerfen. Fabrice Luchini brilliert mit der Aura des Ermüdeten, der sich nach seiner einstigen geistigen Lebendigkeit sehnt und diese auch immer mal aufblitzen lässt. Anaïs Demoustier setzt demgegenüber ihre Neugierde, Intelligenz und subtile Hintergründigkeit ein, die sie schon seit Jahren zu einer der faszinierendsten französischen Schauspielerinnen machen und die hier dafür sorgen, dass Alices Aufrichtigkeit nie als Naivität und ihre Selbstzweifel nie als Schwäche erscheinen. Ein bezwingendes Duo, das glaubhaft macht, dass Politik und Denken sich nicht ausschließen müssen.

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