Dokumentarfilm | Großbritannien 2021 | 94 Minuten

Regie: Andrea Arnold

Vier Jahre gelangt begleitet der Dokumentarfilm das Leben einer Milchkuh und ihrer Kälber auf einer mittelgroßen Farm im englischen Kent. Als für das Tier die nächste Schwangerschaft ansteht, scheint ihm zu dämmern, dass ihm auch dieses Kalb genommen werden wird. Ohne Kommentar oder offenkundige Kritik eröffnen sich in dem Schicksal und der zunehmend ersichtlichen „Persönlichkeit“ einer Kuh die traurigen Implikationen moderner Nahrungsproduktion. Dabei gibt es durchaus auch stille Momente der Verständigung zwischen Kamera und Kuh und frohe Augenblicke eines allzu kurzen, auf Effizienz getrimmten Lebens. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
COW
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
BBC Films/Doc Society/Halcyon Pictures
Regie
Andrea Arnold
Kamera
Magda Kowalczyk
Schnitt
Nicolas Chaudeurge · Rebecca Lloyd · Jacob Secher Schulsinger
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm | Tierfilm
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Langzeit-Doku über das Leben einer Milchkuh auf einer Farm im englischen Kent, bei der man das Tier als fühlendes Wesen kennen und schätzen lernt.

Diskussion

Vier Jahre lang hat die Regisseurin Andrea Arnold die Milchkuh Luma begleitet und ihrem ersten Dokumentarfilm den schlichten Titel „Cow“ gegeben.  Immer wieder tauchen darin lange Augenblicke einer fast schon stillen Verständigung auf, in denen sich Kamera und Kuh direkt ins Auge blicken. In diesen Momenten blitzt mehr auf als die Neugier oder Verwirrung eines Tieres – eher so etwas wie dämmernde Erkenntnis.

Luma mit der Nummer II 29

Mit diesem anonymen „Kuh“ wird Luma zur Stellvertreterin für das Schicksal von hunderten Millionen von Milchkühen, die weltweit den Durst nach einer Flüssigkeit stillen, die eigentlich nur für Kälber gedacht ist. Dabei stellt Milch für Erwachsene eigentlich gar kein adäquates Getränk dar. Inzwischen weiß man einiges über Laktose-Unverträglichkeiten, und auch die durch die Rinderzucht angefachte Klimakrise oder die Diskussionen um neue Tierwohl-Standards belasten den Ruf der Milch. Ohne das Austragen der Kälber, die kurz nach der Geburt von ihren Müttern getrennt werden, gäbe es gar keine Milchproduktion. Bei Luma, der Kuh mit der eingebrannten Nummer II 29, hat der Euter so überdimensionierte Ausmaße angenommen, dass sie erhöht stehen muss, damit die Melkmaschine die Milch absaugen kann.

„Das ist ihr 6. Kalb“, erfährt Arnold bei einer ihrer seltenen Nachfragen gegen Ende des Films. „Erst jetzt im Alter tritt Luma so beschützend auf“, sagt einer der Milchbauern, als die Kuh Menschen und Kamera mit ihrem Kopf von ihrem Nachwuchs wegzustoßen versucht. Sie ahnt, dass auch dieses Kalb nicht bei ihr bleiben wird. Lumas immer lauteres Muhen tönt durch die Ställe, als sie ihr Junges nicht mehr wahrnimmt. Ihr unruhiges Hin- und Herlaufen und die suchenden Blicke durch die Metallstangen hindurch erzählen von einer schmerzhaften Trennung.

Das Motiv der Sehnsucht spielt in den Film von Andrea Arnold stets eine große Rolle. „American Honey“, „Fish Tank“, „Wuthering Heights“ und „Red Road“ sind allesamt Filme mit Protagonistinnen, die an einer schwer auszufüllenden Leere leiden. Diese Spielfilme waren ebenso wortkarg und bildgewaltig wie „Cow“. Der Kameramann Robbie Ryan klebte den Figuren stets an die Fersen und nahm einen mit auf eine Reise voller Auslassungen, Spannung und Dynamik. Das Leben von Luma, fotografiert von Magda Kowalczyk, ist hingegen von Eintönigkeit und Wiederholung bestimmt, aber eben auch von der unstillbaren Sehnsucht, die allerdings voller Verlangen nach Liebe oder Rache ist, sondern vom Schmerz eines tiefgreifenden Verlustes geprägt ist.

Weder Rührstück noch Anklage

Es würde aber zu kurz greifen, „Cow“ als Anprangerung der Milchindustrie und der brutalen Praxis eines beständigen Kreislaufs aus Schwangerschaft und Milchproduktion zu verstehen. Der Film ist weder ein Rührstück noch eine konfrontative Anklage. Die Regisseurin dem Publikum einen persönlichen Bezug auf das Geschehen ermöglichen. „Cow“ verfügt deshalb über warmherzige Momente, in denen die kurze, innige Beziehung der Mutter zu ihrem Kalb aufscheint, wenn sie das Neugeborene ableckt. Oder die Freude, die das Kalb beim Spiel mit seinen Altersgenossen erfährt.

Die glücklichsten Momente jener Lebensabschnitte, in denen Arnold Luma begleitete, scheinen im frühjährlichen Auslauf auf den grünen Weidenflächen zu liegen. Die Geburt liegt dann schon einige Zeit zurück, die nächste noch in weiter Ferne. „Cow“ schafft es, die Zuschauer beständig dazu einzuladen, Lumas Perspektive einzunehmen und sich in ihre Gefühlswelt hineinzuversetzen. Doch der Eindruck des Schmerzes bleibt: Was geht der Kreatur durch den Kopf, als die Kamera gleichsam suchend durch die Lücken zwischen den Rinderleibern fährt und das gerade geborene Kalb nicht mehr entdecken kann? Was bewirkt die beständig gespielte, gleichsam als Signalton fungierende Popmusik beim Eintritt ins Melkkarussell? Was empfindet Luma, wenn sie mitsamt der Kamera eine tot im Außengehege liegende Kuh wahrnimmt oder ein Rind, das auf der gegenüberliegenden Seite des Karussells einknickt?

Kuscheliges Verhältnis: Kuh und Kalb

„A Girl!“, entfährt es den Mitarbeitern jedes Mal erleichtert nach einer Geburt. Männliche Kälber erwartet ein ganz anderes Schicksal auf dem „Highway to Schnitzel“. Dabei geht die hauptsächlich weibliche Belegschaft, die Arnold in den Ställen und auf den Koppeln einfängt, durchaus freundlich mit den Tieren um, denen kein langes Leben beschieden ist. „Gutes Mädchen“, „Los geht’s“ – Ansporn und Geduld ersetzen die Schreckensbilder von überfüllten Kuhställen, engen Boxen und Misshandlungen, die man aus anderen Dokumentationen kennt. Nicht der Stall des mittelgroßen Familienbetriebs in Kent ist hier das Problem, sondern ein industrialisiertes, auf Massenproduktion getrimmtes System, das die enge Bindung zwischen Kuh und Kalb so brutal zerreißt.

In Interviews hat sich Andrea Arnold über eine Interpretation ihres Films sehr bedeckt gehalten. Allerdings drehte sich auch schon ihr erster Kurzfilm „Milk“ (1998) um die Trauer einer Mutter, die ihr Kind bei einer Fehlgeburt verloren hat und seitdem nicht mehr weinen kann. „Warum soll ich ,Auf Wiedersehen‘ sagen, wenn ich noch nicht einmal ,Hallo‘ sagen konnte?“, bügelt die Protagonistin ihren Mann ab, als er sie zur Beerdigung mitnehmen will. In diesem Frühwerk liegt die Bewältigung des Schmerzes nicht dort, wo ihn die Gesellschaft erwartet. Unkonventionell, aber unmissverständlich führt die Verarbeitung des Verlustes, den der Verstand nicht fassen kann, auch in „Milk“ erst über den Körper: über den Sex mit einem unbekannten jungen Mann, der am Ende aus der laktierenden Brust der verwaisten Mutter trinkt. „Milk“ wirkt wie ein früher, sehr aussagekräftiger Komplementär zu „Cow“.

„I’m waiting for you“

Mit jedem Kalben scheint Luma sich klarer zu werden, dass ihr auch dieses Kalb entrissen wird. Was hier stumm zurückblickt, ist nicht der Abgrund des modernen Ernährungssystems, sondern die dunkelbraunen Augen einer „Kuh“ namens Luma. Und so liegt auch bei „Cow“ der tieftraurige Sehnsuchts-Song der britischen Band „Garbage“ über dem Abspann: „I am weak, but I am strong. I can use my tears to bring you home. I’m waiting, I’m waiting for you.“ Der Titel des Songs heißt „Milk“.

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