Gangsterfilm | Frankreich 2014 | 92 Minuten

Regie: Brigitte Sy

Eine junge algerisch-stämmige Frau bricht 1957 aus einem französischen Gefängnis aus, in dem sie wegen eines Raubüberfalls einsitzt. Verletzt wird sie auf der Flucht von einem vorbestraften Ganoven aufgelesen, der sie nach Paris mitnimmt und mit dem sie eine Amour fou beginnt. Doch dann wird er verhaftet und zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Ein in kontrastreichem Schwarz-weiß gefilmtes Drama nach einem autobiographischen Roman aus den 1960er-Jahren, das ganz aus der Sicht der Hauptfigur erzählt ist und dabei Bilder von großer emotionaler Kraft findet. Ungeschönt wird ein Überlebenskampf geschildert, in dem nur die Liebe das Leben erträglich macht. (O.m.d.U.) - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
L' ASTRAGALE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Alfama Films/France 3 Cinéma
Regie
Brigitte Sy
Buch
Brigitte Sy · Serge Le Péron
Kamera
Frédéric Serve
Musik
Béatrice Thiriet
Schnitt
Julie Dupré
Darsteller
Leïla Bekhti (Albertine) · Reda Kateb (Julien) · Esther Garrel (Marie) · Jocelyne Desverchère (Nini) · India Hair (Suzy)
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Gangsterfilm | Liebesfilm | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Ein Schwarz-weiß-Drama um eine junge Räuberin, die Ende der 1950er-Jahre eine Amour fou mit einem Ganoven eingeht, aber auf sich gestellt ist, als dieser ins Gefängnis wandert.

Diskussion

Albertine Sarrazin (1937-1967) war Prostituierte, Diebin, sogar bewaffnete Räuberin. Den größten Teil ihres viel zu kurzen Lebens verbrachte die algerische Waise, die von einem französischen Ehepaar adoptiert wurde, im Gefängnis. Hier begann die junge Frau, ihre Beobachtungen und Erinnerungen aufzuschreiben, auch den Gefängnisalltag schilderte sie schonungslos. Als sie 1964 entlassen wurde, veröffentlichte sie, unterstützt von Simone de Beauvoir, ihre Notizen als autobiographischen Roman: „L’astragale“, auf deutsch als „Der Astragal“, später als „Astragalus“ erschienen. Fortan wurde Sarrazin sogar mit Jean Genet verglichen. Eine freidenkende Frau, die sich ungeniert ihrer Vergangenheit stellte und ihre kriminellen Erfahrungen teilte, die im Knast war und Männer und Frauen gleichermaßen liebte – das war damals eine Sensation. Schon einmal, 1968, wurde ihr Buch verfilmt, mit Marlène Jobert und Horst Buchholz in den Hauptrollen. Doch Eindruck hat die Adaption nicht hinterlassen. Die zweite Verfilmung, 2015 besorgt von der Schauspielerin und Regisseurin Brigitte Sy, muss den Vergleich nicht scheuen.

„Zeig’ dich niemandem!“

Es beginnt mit einer beeindruckenden Nachtszene im April 1957. Albertine (Leïla Bekhti), 19 Jahre alt, springt von der Mauer eines Gefängnisses. Erst später werden wir in einer kurzen Rückblende erfahren, dass sie zusammen mit ihrer Freundin Marie (Esther Garrel) ein Geschäft überfallen hat, in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung. Bei dem Sturz bricht sie sich das Sprungbein. Verzweifelt robbt sie über die regennasse Straße und zwingt so einen Autofahrer, anzuhalten. Es ist Julien (Reda Kateb), ein Ganove, der sie im Morgengrauen nach Paris bringt. „Ich wusste es. ,Zeig’ dich niemandem!’ Schon bevor er das sagte, wusste ich, wer Julien war. Es gibt Stigmata, die nur der erkennt, der im Knast war“, wird sie später ihre Eindrücke und Überlegungen in einem Notizbuch festhalten.

Es ist Liebe auf den ersten Blick, eine Seelenverwandtschaft, die durch Albertines Faszination für die Kriminalität noch befeuert wird. Eine Unterkunft ist rasch gefunden, im Hotel von Nini (Jocelyne Desverchère), die eifersüchtig auf die Nebenbuhlerin reagiert, ihr aber trotzdem hilft. Ein neuer Pass ist schnell besorgt, auch der Fuß wird eingegipst. Eine Liebesgeschichte unter Außenseitern könnte sich jetzt entspinnen. Doch Julien geht seinen kriminellen Geschäften nach und ist zumeist nicht da. Albertine ist gezwungen, in Montmartre als Prostituierte zu arbeiten. Plötzlich wird Julien verhaftet und für mehrere Jahre in ein Gefängnis nach Nordfrankreich überführt. Die junge Frau muss sich nun allein durchschlagen. Doch die Sehnsucht nach Julien verzehrt sie über alle Maßen.

Der raue Ton des Buchs prägt den Film

Die Geschichte einer Amour fou, von Brigitte Sy in kontrastreichem Schwarz-weiß eingefangen. Einige Kritiker fühlten sich darum an die Filme Philippe Garrels erinnert. Doch Sy hat ihren eigenen Stil. Sie behält den rauen Ton des Buches bei, Schmerz, Gewalt und Einsamkeit prägen auch den Film. Sie verurteilt ihre Heldin nicht, im Gegenteil. Ungeschönt schildert sie, wie eine algerisch-stämmige Frau im Frankreich der Nachkriegszeit ums Überleben kämpft und dabei, trotz ihrer Intelligenz und Redegewandtheit, auf die schiefe Bahn gerät. Die Liebe, die Sehnsucht nach dem anderen, fungiert als Fluchtpunkt, der allein das Leben erträglicher macht.

Dabei ist der Film ganz aus Albertines Sicht erzählt, zumal Reda Kateb häufig für lange Zeit aus dem Film verschwindet. Einmal muss sie in einer Kneipe drei Stunden auf Julien warten. Doch der Ärger ist rasch verflogen – endlich zusammen. Die Regisseurin findet dabei stets Bilder von großer emotionaler Kraft. Einmal läuft Albertine humpelnd durch die Straßen von Montmartre, gestützt auf einen Stock. Doch die anderen Huren heißen sie nicht willkommen. Dabei nimmt die Kamera jede kurz in den Blick, um dann zur nächsten zur schwenken – eine fast schon surreale Szene.

Freude, Ärger, Trauer, Wut

Und dann ist da noch das makellose Gesicht von Leïla Bekhti. Wunderschön ist sie mit den langen, brünetten Haaren und den schwarzen Augen. Doch weil Albertine noch immer von der Polizei gesucht wird, trägt sie eine blonde Kurzhaar-Perücke, die ihr Gesicht wie ein Helm rahmt und so die Aufmerksamkeit darauf lenkt. Freude, Ärger, Trauer, Wut – all das ist darin enthalten.

Kommentar verfassen

Kommentieren