Berlin Utopiekadaver

Dokumentarfilm | Deutschland 2024 | 95 Minuten

Regie: Johannes Blume

In Berlin ist die linksalternative Szene seit geraumer Zeit von einer Auflösungswelle ehemaliger „Hausprojekte“ betroffen, in denen sich vielfältige Formen eines solidarischen Lebens entfalteten. Der Dokumentarfilm leiht dieser Welt seine Stimme und lässt die Akteure ausführlich zu Wort kommen, die wortreich und sympathisch über ihre Utopien eines Daseins jenseits kapitalistischer Zwänge Auskunft geben. Ein parteiischer Film, der eine differenzierte Innensicht entwirft und den Niedergang der alternativen Subkultur nachzeichnet. - Ab 14,
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Filmgalerie 451
Regie
Johannes Blume
Buch
Johannes Blume
Kamera
Johannes Thieme
Musik
Markus Hossack
Schnitt
Johannes Blume · Frank Brummundt
Länge
95 Minuten
Kinostart
25.04.2024
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14,
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb

Doku über die linksautonome Szene in Berlin, die seit einiger Zeit von der Auflösung ehemaliger „Hausprojekte“ betroffen ist, die Schutzräume für Marginalisierte boten.

Diskussion

Angesichts der Doku „Berlin Utopiekadaver“, die von der Zerstörung autonomer Räume und Projekte in der Hauptstadt und den Folgen der rücksichtslosen Gentrifizierung handelt, fühlt man sich an den Song „Zombie“ der Hamburger Band Kante erinnert, in dem es heißt: „Unsere Stimmen sind wie Schreie / Wir sind ein Wrack im Untergehen / Oder ähneln den Skeletten / Von Häusern im Entstehen (…) / Unser Schmerz und unsere Wunden / Sind unser größtes Kapital …“.

Ein anderes Bild entwerfen

Vor die Dialektik hat der Film von Johannes Blume jedoch die Nostalgie gesetzt. Geboten wird eine kleine Stadtrundfahrt durchs andere Berlin mit teils legendären, teils noch (fast) aktuellen Stationen der linksautonomen Szene wie der Mainzer Straße, der Rigaer Straße, dem Tuntenhaus, der Liebig 34, Potse, Drugstore, der Meuterei, dem Syndikat, der Köpi – allesamt (Frei-)Räume, teils längst geräumt oder aktuell von der Räumung bedroht. In der medialen Öffentlichkeit werden diese Räume mit Anarchie, Krawall und gewaltbereiten Chaoten mysteriös bis bedrohlich inszeniert (zuletzt ironischerweise als re-sozialisierender Lebensmittelpunkt des seit Jahrzehnten untergetauchten RAF-Mitglieds Burkhard Garweg). Für Regisseur Johannes Blume schien es deshalb wohl höchste Zeit zu sein, ein anderes, differenziertes Bild vom Innenleben dieser (Frei-)Räume zu zeichnen. Nicht nur im Sinne von Aufklärung als Gegeninformation, sondern auch im Sinne der Dokumentation einer Erfahrung des Verlustes.

Gerade aufgrund des Bildes, das von dieser Szene häufig gezeichnet wird, ist es eine kaum zu unterschätzende Leistung des Films, überhaupt Zugang zu den Akteuren gefunden zu haben. Der Film lässt sie ausführlich zu Wort kommen. Konsequenterweise werden diese Eindrücke nicht dadurch relativiert, dass Vertreter von Politik, Stadtverwaltung oder der Polizei ihre andere Sicht der Dinge ausbreiten. „Berlin Utopiekadaver“ ist keine ausgewogene Dokumentation, sondern ein Film, der offen Partei ergreift. Das impliziert, dass Themen wie Wohnraumknappheit und -verteuerung, Gentrifizierung oder die Unverhältnismäßigkeit von Polizeieinsätzen bei Räumungen gewissermaßen als Basso continuo des filmischen Diskurses fungieren. Es geht vorrangig um die Binnenperspektive, um Erfahrungen, die innerhalb der Wohnprojekte gemacht werden, die als Safe Spaces für Marginalisierte gedacht werden.

Eloquentes über alternatives Leben

So gibt es neben den obligatorischen, etwas aus der Zeit gefallenen Punk-Konzerten, einer Handvoll Protest-Performances, kunstvollen Körperbemalungen und -behängungen und etwas Kleinkunst-Akrobatik auch allerlei durchaus eloquente Erzählungen von der Utopie eines solidarischen Lebens jenseits kapitalistischer Verwertungslogik. Es geht um die Bereitstellung von Wohnraum, um nachhaltige Reparaturwerkstätten, um Suppenküchen fürs Kollektiv und um Kneipen, die nicht primär darauf aus sind, dass am Ende des Abends die Kasse stimmt.

Ein Taxifahrer, der sich als Musiker und Szene-Koryphäe entpuppt, sorgt für einen Kontrapunkt der von sich selbst begeisterten Anekdoten, indem er Infos über die historische Dimension der Veränderungen seit dem Mauerfall beisteuert. Er beklagt explizit die „stillschweigenden Räumungen“, die kaum noch auf eine größere Mobilisierung der linksautonomen Szene stoßen. Wo der Widerstand gegen Räumungen einst dezentral in verschiedenen Stadtteilen organisiert werden konnte, was die Polizei logistisch überforderte, ist die schwache Resonanz aktuell eher trostlos. Dass die bunte, anarchische Subkultur mit ihren Freiräumen nicht nur das Berliner Stadtmarketing befeuerte, sondern auch ganz konkrete, ehrenamtliche Sozialarbeit leistete, hinterlässt einen schalen Beigeschmack, wenn es wie im Film darum geht, wer den von den unzähligen (verlorenen) Kämpfen erschöpften Altvorderen vielleicht einmal nachfolgt.

Hier setzen die Akteure ihre Hoffnungen auf eine Radikalisierung der jungen Klimaaktivist:innen. Gegen Ende des Films singt der Taxifahrer Yok: „Wir hatten unsere Zeit / Die ist jetzt vorbei.“ Er gönnt sich selbst noch eine optimistische Volte des „Trotz alledem“, aber in Erinnerung bleibt eher der Umzug der Akteure von der Potse auf das Tempelhofer Flugfeld, wo ihnen der rot-rot-grüne Senat neue Räume angeboten hat. Im friedlichen Tausch, sozusagen. Dumm nur, dass sich direkt neben diesen neuen „Freiräumen“ eine Polizeiwache befindet, deren Beamte die ganze Zeit Präsenz zeigen, und dass die autonomen Akteure bei ihren Aktivitäten jetzt Brand-, Lärm- und Denkmalschutzauflagen berücksichtigen müssen.

Eine Art Erinnerungsalbum

Derart über den Tisch gezogen, ist es den Bewohnern künftig untersagt, auch nur einen Nagel in die Wand zu schlagen; von wilden Punk-Konzerten mit „Bullenterror“-Texten ganz zu schweigen. So bleibt am Ende vor allem eine These im Raum stehen, die das „harte“ Vorgehen der Stadt gegen die autonomen Freiräume einer Minderheit zu plausibilieren versucht, indem es von der Angst des herrschenden Systems vor seinem Anderen erzählt: „Wenn diese Orte verschwinden, dann sehen auch die normalen Leute nicht mehr, dass es etwas Anderes gibt – jenseits der kapitalistischen Verwertungslogik.“

Immerhin gibt es jetzt „Berlin Utopiekadaver“ als Erinnerungsalbum für fortgesetzte Niederlagen und Verluste und als freundliche Verbeugung vor einigen uneinsichtigen Sympathen, die ihrerseits alternative Erinnerungen abrufen können. Ob als „Kapital“, wie es in einem Song von „Kante“ heißt, sei dahingestellt.

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