Krimi | Deutschland 2023 | Minuten

Regie: Olivia Retzer

Beim Freigang überfallen ein Berliner Gangster und seine Crew eine Bank, doch was als schneller, unauffälliger Raubzug geplant war, geht schief, und so nehmen die Diebe Geiseln. Bald ist das Gebäude von einem Großaufgebot an Polizei umstellt und die Lage droht sich weiter zuzuspitzen. Aus dieser klassischen Prämisse entfalten sieben 15-minütige Folgen ein gleichermaßen intuitives wie experimentelles Kammerspiel. Die formalen Einschränkungen nutzen sie gekonnt, indem sie mit den Zuschauererwartungen spielen und dabei bis in die kleinsten Rollen auf herausragende Darsteller setzen. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
W&B Television GmbH
Regie
Olivia Retzer · Kida Khodr Ramadan
Buch
Kida Khodr Ramadan · Jonas Hartmann · Christoph Gampl
Kamera
Armin Franzen
Musik
Clemens Bacher
Schnitt
Olivia Retzer · Philipp Brozsek
Darsteller
Kida Khodr Ramadan (Keko) · Frederick Lau (Stulle) · Stipe Erceg (Pepsi) · Veysel Gelin (Barro) · Mortel Jovete (Kongo)
Länge
Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Krimi | Serie | Thriller
Externe Links
IMDb | JustWatch

Heimkino

Verleih DVD
2.2.2024 digital (ARD-Mediathek)
DVD kaufen

Nach "Asbest" eine neue Krimiserie von und mit Kida Khodr Ramadan: In sieben kleinen Episoden geht es multiperspektisch um eine Gruppe von Gangstern und Geiseln während eines Banküberfalls.

Diskussion

Klassische Szene aus einem Bankräuber-Film: eine Filiale, von Einsatzwägen umstellt, dahinter eine Armada aus Polizisten und Sondereinsatzkräften in Position, die Waffen im Anschlag. Der Kreuzberger Filmemacher und Schauspieler Kida Khodr Ramadan weiß, wie man in kürzester Zeit effektiv Spannung aufbaut. Jeden Moment könnte die Ruhe vor dem Sturm in totale Eskalation umschlagen. Doch statt die Emotionen in einem Kugelgewitter kulminieren zu lassen, lässt Ramadan in dieser Szenerie gemütlich ein Taxi vorfahren: Der Warnblinker geht an, die Hintertür auf und ein kleiner Junge steigt aus, Fußball unter dem Arm.

Komödie und Krimi liegen näher beieinander, als man glaubt. Wenn das Timing stimmt, ist der Effekt beinahe derselbe, egal ob sich eine Szene in Gewalt oder einem Gag entlädt. Kida Khodr Ramadan hat das verstanden und spielt in seiner neuen Miniserie „Testo“ mit der Erwartungshaltung seines Publikums. Derlei Gags würde man von Toni Hamady nicht erwarten, jener Figur, die Ramadan sich im Serienhit „4 Blocks“ (2017-2019) erarbeitet und fortan als übergreifende Persona kultiviert und weiterentwickelt hat – etwa in seinem Regiedebüt „In Berlin wächst kein Orangenbaum“ (2020), zuletzt in der Miniserie „Asbest“ (2023). In der Brust dieses Figurentypus schlagen mehr als zwei Herzen: fürsorglicher Familienvater, willensstarker Gangster, gewiefter Kreuzberger und stolzer Libanese kämpfen in seinen Figuren immer wieder um die Oberhand.

Ein experimentelles Kammerspiel als Mikroserie

Keko heißt er nun in „Testo“. Zu Beginn sitzt er mit seinen Jugendfreunden im offenen Vollzug ein, steuert jedoch direkt beim ersten Freigang die Bank an, in der ein Großteil der Serie spielt, um sie auszurauben. Schnell und unauffällig sollte das gehen, und doch sitzen die fünf jetzt fest und haben auch noch Angestellte und Kunden als Geiseln genommen. So weit, so klassisch, doch Ramadan macht aus dieser Prämisse ein gleichermaßen intuitives wie experimentelles Kammerspiel als Mikroserie: sieben Folgen, alle nur um die 15 Minuten lang, improvisierte Dialoge.

Das könnte ziemlich schiefgehen, doch hat dieser Keko nicht nur vor der Kamera seine besten Kumpels dabei, sondern auch Ramadan arbeitet mit seiner eingespielten Berliner Posse, die mittlerweile zu seiner Film-Familie geworden ist: Frederick Lau, Veysel Gelin, Stipe Erceg und Mortel Jovete. Ronald Zehrfeld, der konkurrierende Drogen-Boss Ruffi aus „4 Blocks“, ist auch hier wieder als Antagonist zu sehen – diesmal jedoch emotional noch aufgeladener als Polizist Schweinebacke, der Keko einst als V-Mann in die Falle gelockt hatte.

Zwischen Überlebensinstinkt, Kiezrealität und Filmklischee

In der Kürze der sieben Folgen bleibt die Handlung zwar etwas holzschnittartig, doch haben Ramadan und seine Crew sichtlich Spaß dabei, Genre-Standards gleichermaßen zu überzeichnen und zu brechen. Die Figuren kämpfen allesamt mit ihrer Identität, und wie bei Keko wabern auch bei ihnen Überlebensinstinkt, Kiezrealität, Filmklischee und persönliche Unsicherheiten abwechselnd an die Oberfläche: Stulle mit dem Vokuhila und der bipolaren Persönlichkeit, der Gangsterfilm-Jünger Pepsi, der unberechenbare Barro, den alle nur Pitbull nennen, und der Fluchtfahrer Kongo mit den flatternden Nerven. Bei der Figurenzeichnung kommt sicherlich die Erfahrung von Ramadans Co-Autorin Olivia Retzer zum Tragen, die bisher meist als Editorin tätig war. Ein exaktes Gespür für Timing und intuitiven Schnitt macht in kurzen Schlaglichtern auf Körpersprache und Stressreaktionen aus den fünf Figurentypen greifbare Menschen.

In einer kurzen Rückblende etwa sieht man die fünf Gangster als kleine Steppkes auf dem Fußballplatz stehen und nassforsch verlautbaren, was sie mal werden wollen, wenn sie groß sind. Kekos Kumpels träumen von Karrieren als Pilot, Architekt, Bürgermeister und – ironischerweise Barro, der Pitbull – Tierarzt. Nur Keko ist sich schon damals sicher: „Ich will ’ne Bank überfallen.“ Kurze Einblicke in die Beweggründe der Gang, in ihre Beziehung zueinander, laden das Handlungsgerüst emotional auf und halten die Spannungsmomente gekonnt zwischen Gangsterstereotypen und Kitschklischees in der Schwebe.

Zwischen Gag und todernster Taktik

Deshalb ist die Taxi-Szene auch absurd und rührend zugleich: Der kleine Junge mit dem Fußball ist Kekos Sohn. Der hatte zuvor schon angerufen und seinen Vater an einen gemeinsamen Ausflug zum Sportplatz erinnert. Versprochen ist versprochen, da lässt sich das Kind im Sportdress nicht abwimmeln. und deshalb muss Keko nun mit ihm zwischen den Fronten am Tatort kicken.

Statt die Situation für einen Zugriff zu nutzen, schaut die versammelte Polizei nur verdutzt zu. Einsatzleiterin Billy Fischer gibt den Ball sogar zurück, als er ihr vor die Füße rollt – auch hier bleibt die Anspannung zwischen Gag und todernster Taktik in der Schwebe: Ob Fischer so Kekos Vertrauen gewinnen und die Situation entschärfen kann, bleibt offen. Nicolette Krebitz spielt sie mit kluger Zurückhaltung zwischen Unsicherheit und dem Bewusstsein, dass der Einsatz ein Karrieresprungbrett für die Polizistin sein kann.

Dass innerhalb der kurzen Zeit mehr als nur grobe Umrisse von so vielen Einzelfiguren sichtbar werden, ist bemerkenswert. Der testosterongetränkten Gangsterfront stehen neben Krebitz auch noch weitere Frauenfiguren gegenüber, an denen das Machogehabe regelrecht abperlt: Katharina Thalbach als gewitzte Polizeipräsidentin, Jeanette Hain als charismatische Bankleitung sowie Ruby O. Fee und Kathrin Angerer als renitente Geiseln. Ramadan hat hier eine kluge Entscheidung getroffen: Er füllt das rudimentäre Handlungsgerüst geschickt mit Charakteren und deren Beziehungen zueinander und setzt bis in die kleinsten Rollen auf seinen herausragenden Cast.

Kommentar verfassen

Kommentieren