© imago/United Archives ("Die allseitig reduzierte Persönlichkeit - Redupers" von Helke Sander)

Kinomuseum-Blog (9): Wer singt noch den Filmkanon?

Was ist eigentlich aus dem deutschen „Filmkanon“ geworden, der um die Jahrtausendwende herum inauguriert wurde?

Veröffentlicht am
01. Dezember 2022
Diskussion

Alle zehn Jahre bittet die englische Filmzeitschrift „Sight & Sound“ Regisseure, Kuratoren, Kritiken und Filmschaffende um eine Abstimmung zu den wichtigsten 100 Werken der Filmgeschichte; die nächste Umfrage am 1. Dezember steht unmittelbar bevor. In seinem Siegfried-Kracauer-Blog „Kinomuseum“ nutzt Daniel Kothenschulte diesen Termin für eine Erinnerung an den deutschen „Filmkanon“ und sein Nachfolgeprojekt „Die wichtigsten deutschen Filme“.


Was wurde eigentlich aus dem „Filmkanon“, jenem Gemeinschaftsprojekt deutscher Filmarchive und Förderanstalten, die um die Jahrtausendwende eine größere Sichtbarkeit für Filmgeschichte erreichen wollten? Nichts ist spießiger als ein Kanon, aber wo soll man anfangen, wenn es darum geht, Filmgeschichte zu vermitteln? Wer an deutschen Hochschulen filmbezogene Disziplinen lehrt, kann kaum darauf zählen, dass Klassiker, die über Jahrzehnte als maßgeblich galten wie „Citizen Kane “, „Fahrraddiebe“ oder „Persona“, den Studierenden noch bekannt sind.

Man kann es ihnen kaum zum Vorwurf machen. Die Abwesenheit historischer Filme im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das seinen kulturellen Bildungsauftrag weitgehend aufgegeben hat, trägt mit dazu bei, dass sie aus dem Alltag von Jugendlichen weitgehend verschwunden sind. Der Verlust von Programm- und Uni-Kinos, vor allem aber das Verschwinden einer filmbezogenen Sozialisation in den prägenden Lebensjahren sind weitere maßgebliche Faktoren. Wo ist der Anreiz zu filmhistorischer Bildung, wenn weder die Freude an älteren Filmen vermittelt wird noch die kreative Inspiration, die sie nachfolgenden Filmemacherinnen und Filmemachern stets gewesen sind? Auch die Umwandlung zahlreicher Universitätsinstitute, die sich traditionell mit dem Film als Kunstform beschäftigt haben in eine weit allgemeiner gefasste und kaum noch historisch interessierte „Medienwissenschaft“ beschleunigt diesen Wissens- und Bedeutungsverlust.

"Fahrraddiebe" von Vittorio de Sica (imago/Everett Collection)
"Fahrraddiebe" von Vittorio de Sica (© imago/Everett Collection)

Übertragen auf andere Künste, lebt die Filmwelt bereits in einer dystopischen Kultur, die Dante und Shakespeare, Goethe, Dostojewski oder Brecht ebenso wie Bach, Beethoven und Cage, Michelangelo, Dürer, Picasso und Beuys für irrelevant erklärt hat.


Mubi macht den Unterschied

Unverwüstliche Institutionen wie Kunstmuseen, Theater und Konzerthäuser und ein – wenn auch bescheidenes – schulisches Curriculum werden diese Klassiker auch weiterhin am Leben halten. Kommerzielle Verlage kümmern sich um den literarischen Kanon in ihren Back-Katalogen. Den Streamingdiensten gelten Filmklassiker hingegen nur wenig. Die Handvoll Titel aus früheren Jahrzehnten, die Amazon und Netflix – meist versteckt – anbieten, zeigen keinerlei kuratorisches Bemühen; lediglich das vom türkischen Unternehmer Efe Cakarel im Jahr 2007 gegründete Streaming-Unternehmen Mubi, konkurrenzlos in seinem Qualitätsanspruch, feiert immer wieder einzelne Regisseurinnen und Regisseure mit Retrospektiven.

Ganz begraben wollte das Deutsche Filminstitut sein Filmkanon-Projekt aber wohl nicht. Bei Recherchen über einen berühmten deutschen Nachkriegsfilm, Peter Lorres „Der Verlorene“, verwies mich die Seite „filmportal.de“ auf ein fast vergessenes Folgeprojekt: „Die wichtigsten deutschen Filme“. Eine chronologische Übersicht versammelt 147 Titel, deren Auswahl staunen lässt.

Während das Weimarer Kino mit 38 der bekanntesten Klassiker vertreten ist, wenngleich ohne lange ignorierte „Outsider“ wie etwa Werner Hochbaums „Razzia in St.Pauli“, repräsentiert nur ein Spielfilm, „Der Student von Prag“, die visuelle Vielfalt im Kino der Kaiserzeit. Noch immer scheint diese Liste das Desinteresse mehrerer Filmhistoriker:innen-Generationen gegenüber dem frühen Kino festzuschreiben.

Ganze neun Titel stammen aus der NS-Zeit, davon ein Drittel von Leni Riefenstahl. Veit Harlan ist mit dem antisemitischen Hetzfilm „Jud Süß“ vertreten, was historisch berechtigt ist, aber nicht mit seinem in seinem ästhetischen Anspruch singulären „Opfergang“. Es gibt keinen Detlef Sierck und keinen Frank Wysbar.


Fehlanzeige „Heimatfilm“

21 Nachkriegsfilme repräsentieren die Zeit vor dem Oberhausener Manifest – wobei der Heimatfilm weder als Dokument des Massengeschmacks („Der Förster vom Silberwald“) noch des künstlerischen Anspruchs („Rosen blühen auf dem Heidegrab“) auftaucht. 33 Filme führen von 1965 bis zum Ende der Ära des jungen deutschen Films, markiert durch die ersten beiden „Heimat“-Mehrteiler von Edgar Reitz. Diese Zusammenstellung wirkt auf gleiche Weise wie die des Weimarer Kinos altbacken-kanonisch – mit ähnlichen Auslassungen im Kunstvoll-Populären. Weder May Spils Münchner Nouvelle-Vague-verliebter Publikumshit „Zur Sache, Schätzchen“ noch die Werke von Roland Klick tauchen hier auf. Aber auch Helke Sanders nicht nur für das feministische Kino wegweisender Film „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers“ fehlt. Ebenso wenig finden sich Dokumentar- oder Experimentalfilme in der Liste.

Missliche Lücke: "Zur Sache, Schätzchen" (Alpha)
Missliche Lücke: "Zur Sache, Schätzchen" (© Alpha)

Dann aber wird es wirklich kurios: Mit Sönke Wortmanns „Der bewegte Mann“ beginnt die Renaissance des Populären, das ohne Vorbehalte durchgewunken wird: „Das Sams“ und „Lauras Stern“ stehen für den Kinderfilm, dessen frühere Meister wie Hark Bohm („Nordsee ist Mordsee“) oder Haro Senft („Ein Tag mit dem Wind“) schmerzlich fehlen. Ignoriert wird sogar Doris Dörrie, deren Millionenerfolg „Männer“ mehr als jeder andere Film zu einem Paradigmenwechsel in der deutschen Filmkultur und -förderung beigetragen hat. Die jüngsten Einträge der Liste sind zehn Jahre alt: Jan-Ole Gersters Berliner Slacker-Movie „Oh Boy“ und Markus Imhofs Bienen-Doku „More than Honey“.

Die Geschichte des 2006 begonnenen Projektes erklärt die Webseite so: „Eine repräsentative Auswahl deutscher Filme von den Anfängen des Kinos bis zur Gegenwart ausführlich zu dokumentieren und sie einer breiten Öffentlichkeit via Internet direkt zugänglich zu machen – dies waren die Ziele des Pilotprojekts „Die wichtigsten deutschen Filme“ von filmportal.de und T-Online, das 2006 startete.“

Angeregt von der damaligen Leiterin des Deutschen Filminstituts, Claudia Dillmann, wurde auf eine kuratorische Begleitung verzichtet. Man übernahm eine 1995 über eine Umfrage unter Filmexperten erstellte Liste und ergänzte sie um Filme, die in den Folgejahren beim Deutschen Filmpreis ausgezeichnet worden waren. Gefördert vom Bundesland Hessen, subventionierte man zugleich die Deutsche Telekom, damals Video-on-Demand-Pionierin in Deutschland, die sich bemühen sollte, die Filmauswahl ihren Nutzern anzubieten. Zum Stand der letzten Aktualisierung dieser Liste soll das für 17 Filme möglich gewesen sein.


Die Tragik der deutschen Filmbildung

Dieses offensichtlich gescheiterte Projekt ist ein Musterbeispiel für die im Neoliberalismus erblühte Fantasie, Kultur- und Wirtschaftsförderung zu verbinden. In seiner grundsätzlich ehrbaren Absicht aber steht es auch für die Tragik der Filmbildung in Deutschland.

Es hat aber auch etwas Befreiendes, „Play it Again, Sam“ mit Menschen zu sehen, die noch nie den Namen Woody Allen gehört haben oder „Menschen am Sonntag“ mit Studierenden, die überhaupt keine Stummfilme kennen. Gerade diskutiere ich in einem Seminar am der Fachhochschule Dortmund den Einfluss der Filmförderung auf die deutsche Filmkultur und habe dann oft auch selbst das Gefühl, „Abschied von Gestern“ oder „Zur Sache,Schätzchen“ mit neuen Augen zu sehen. Und doch fällt es mir schwer, mir eine Kinokultur vorzustellen, die nicht mehr auf einstmals weltbekannte Werke aus den ersten hundert Jahren ihrer Geschichte aufbauen kann. Natürlich entstand immer wieder Geniales aus Unkenntnis. Als Jean Cocteau „Das Blut eines Dichters“ drehte, hatte ihm niemand gesagt, dass man für Fahraufnahmen die Kamera und nicht die Darsteller auf Schienen stellte. So machte er es umgekehrt und erreichte eine subtile Surrealität.

Subitle Surrealität: "Das Blut eines Dichters" (imago/Everett Collection)
Subitle Surrealität: "Das Blut eines Dichters" (© imago/Everett Collection)

In Großbritannien, dem Land des Guinness-Buchs, bekennen sich Filmfans gerne zu ihrer „Listomania“. Am ersten Dezember wird die Zeitschrift Sight &Sound die Ergebnisse ihres nur alle zehn Jahre veröffentlichten Experten-Polls publizieren. Das Blatt schürt seit Monaten die Spannung. Der Kreis der Befragten aus Filmschaffenden und Menschen, die über Filme schreiben, versammelt Berufsgruppen auf Augenhöhe, die deutsche Institutionen selten als Verbündete betrachten. Manche Befragte fühlen sich schon durch die bloße Aufnahme in die internationale Riege der Stimmberechtigen selbst wie kanonisiert.


Der Kanon der Cinephilen

Natürlich wird man auch wieder Top-10- oder Top-50-Listen herausrechnen, die man als kanonisch betrachten könnte. Ebenso wird man aber auch in den Empfehlungen der Cinephilen nach unbekannten Perlen fischen. Alle zehn Jahre bereitet die traditionsreiche Zeitschrift des Britischen Filminstituts den Cinephilen der Welt damit ein besonderes Vorweihnachtsgeschenk. So macht ein Kanon Sinn – auf der Grundlage kollektiver Expertise. Man kann ja ohnehin niemanden zum Mitsingen zwingen. Aber wer das Kino wirklich liebt, der wird weiterhin alles tun, um keinen Film zu versäumen, der sein oder ihr Leben ändern könnte.


Hinweis

Die Beiträge des Kracauer-Blogs „Kinomuseum“ von Daniel Kothenschulte und viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.

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