© Birgit Hein ("Kali-Filme")

Einen Hitchcock-Film versteht jeder

„Film als Film“ heute: Die Filmemacherin und -theoretikerin Birgit Hein über die Erben von X-Screen und den heutigen Umgang mit Avantgardefilm im Kunstbetrieb

Veröffentlicht am
06. März 2023
Diskussion

2013 gab es bei dem Videonale.scope-Festival in Köln und Bonn eine Retrospektive mit dem Gesamtwerk von Birgit Hein. In diesem Zusammenhang fanden auch mehrere Werkstattgespräche statt, die dokumentiert wurden. Die Filmemacherin spricht darin auch über die Erben von X-Screen und den Umgang mit Avantgardefilm im Kunstbetrieb.


Gab es in den 1960er-Jahren, als Sie zu den Begründern von X-Screen zählten, ein tieferes Verständnis für Avantgardefilm als heute?

Birgit Hein: Nein, ganz sicher nicht. In den 1960er-Jahren musste überhaupt erst ein Verständnis erarbeitet werden. Das Verständnis ist heute viel breiter und größer, weil der Film durch Video eine viel größere Rolle in der bildenden Kunst spielt. Er wird heute sehr viel ernster genommen, auch wenn es immer noch weit von dem entfernt ist, was man sich vorstellen kann. In den 1960er-Jahren aber war es noch ziemliches Neuland.

Wo fand man damals mehr Verständnis: bei Menschen, die aus der bildenden Kunst kamen, oder bei den Cinephilen?

Hein: Grundsätzlich kam das größere Verständnis immer noch von denen, die vom Film her kamen. Die fanden das eher interessant und waren, wenn überhaupt, bereit, sich damit auseinanderzusetzen. So war es ja beispielsweise Jonas Mekas, der sich für Andy Warhol eingesetzt hat, mit einer Energie, die im Kunstbereich dafür niemand aufgebracht hätte. Bei der großen Warhol-Retrospektive 1989 in London und Köln war in der Ausstellung überhaupt kein einziger Film zu sehen. Das British Film Institute hatte dagegen ein großes Symposion zu den Filmen von Andy Warhol veranstaltet. Ohne die Menschen aus dem Filmbereich wäre Warhol noch immer nicht im Bewusstsein.

Sie haben in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre als Autorin eine Menge zur Theoriebildung und historischen Einordnung getan. Ist das alles ohne Wirkung geblieben?

Hein: In der damaligen Zeit ist es ohne Wirkung geblieben. Inzwischen aber gibt es eine starke Rückbesinnung. Man muss sich das einmal vorstellen: Mein Buch „Film im Underground“ ist noch immer ein Klassiker und zählt zu den Büchern, die benutzt werden, weil es nichts anderes gibt. Insofern ist der Mythos mit der Zeit langsam gewachsen. Als das Buch 1971 erschien, wurde ich dafür niedergemacht, was für ein schlechtes Buch das sei.

Und wie ist das heute? Finden Sie mehr Verständnis in der Filmwelt oder in der Kunstwelt?

Hein: Das ist jetzt etwa gleich verteilt. Ich bin sozusagen etabliert. Die Kunstseite kommt mit Interesse auf mich zu. Andererseits hatte ich früher eine große Retrospektive im Berliner Kino Arsenal. Das Interesse kommt also von beiden Seiten.

Man könnte ja aber auch fürchten, dass das gegenwärtige Interesse der Kunstwelt am Film nur eine Modeerscheinung ist. Als Sie 1977 das Filmprogramm der documenta 6 kuratierten, blieb das erstmal ohne Wirkung.

Hein: Die Wirkung war kurzfristig gering; aber es waren doch Dinge, die meinen Ruf langfristig aufbauten. So bezog sich der Kurator bei der kommenden documenta ausdrücklich auf meinen damaligen Katalogaufsatz. Heute hat man das Gefühl, wenn man durch Kunstausstellungen geht, dass Film als flüchtiges Medium geschätzt wird. Allerding ist es so, dass zwar viel davon da ist, aber doch eher einen geringen Anspruch an die Geduld und Zeit der Besucher stellt.

Chantal Akerman hat einen Kompromiss gemacht, den ich für sehr verwerflich halte. Sie hat ihre Filme auf Monitore aufgeteilt. So kann man nun durchlaufen und sich das ansehen. Damit aber ist das, was ein Film an Konzentration erfordert, aufgegeben. Es waren ja ursprünglich lange Filme, die Akerman gemacht hat; aber als Konzession ans Kunstpublikum wurde diese Konzeption aufgegeben. Wenn ich, um ausstellbar zu sein, meine Filme so zerstückle, finde ich das nicht richtig.

Birgit Hein im Jahr 2016 (imago images/gezett)
Birgit Hein im Jahr 2016 (imago images/gezett)

Ich erinnere mich an die Präsentation eines Birgit- und Wilhelm-Hein-Films bei der großen Fluxus-Retrospektive im Kölnischen Kunstverein. Da hätte man ja auch sagen können, dass der aufgebaute Filmprojektor als Installation vom reinen Filmerlebnis wegführte?

Hein: Bei den Fluxus-Filmen ist es relativ unproblematisch, weil sie so kurz sind und als Antifilme konzipiert wurden. Man kann aber einen Andy-Warhol-Film, der über eine Stunde dauert, nicht mehr als statisches Objekt zeigen. Da muss man sich hinsetzen, und ihn von vorn bis hinten ansehen.

Kann man das im Kunstbetrieb nicht erwarten?

Hein: Nur mühsam. In Wolfsburg, bei der Ausstellung „Andy Warhol’s Factory“, hat man einen Sperrholzkasten hingestellt, auf dem man sitzen konnte. Das war aber nichts, um sich dort 60 Minuten aufzuhalten. Es war ein Kino, aber unter Bedingungen, die niemand im Kino tolerieren würde, wenn man sich darauf konzentrieren möchte, was auf der Leinwand geschieht. Es ist immer noch nicht angekommen, dass man auch im Kunstbetrieb die Bedingungen, die ein Film erfordert, erfüllen muss.

Auf der documenta 11 gab es ein Kino, in dem man sich Steve McQueens Arbeit „Western Deep“ ansehen konnte und nur zwischen den Vorführungen eingelassen wurde. Glauben Sie, dass sich Ausstellungsbesucher diese Mühe machen?

Hein: Diese Präsentation habe ich nicht gesehen, wohl aber die von Ulrike Oettinger, und die fand ich unangemessen. Der Zuschauer wird nicht auf die Ernsthaftigkeit dieses Werkes vorbereitet. Die Tatsache, dass ein Film andere Bedingungen verlangt, hat sich noch nicht herumgesprochen.

Es gibt aber auch Nutznießer dieser Bedingungen. Denken Sie an Eija Liisa Athila, die im Filmbereich, aus dem sie kam, nie beachtet wurde. Ist das nicht auch eine Chance, die der Kunstbetrieb Avantgardefilmern bietet?

Hein: Wenn man das mit seiner Arbeit vereinbaren kann, ja. Wenn es unter Hinnahme von Kompromissen geschieht wie bei Chantal Akerman - dann nein. Ich könnte solche Kompromisse nicht machen.

Wenn man jetzt nostalgisch über X-Screen liest und die verflossene Kölner Filmkultur: Ist das nicht auch ein wenig Verklärung? War es nicht eher eine Partykultur denn eine echte Begeisterung über die seltene Möglichkeit, strukturelle Filme aus New York zu sehen?

Hein: Die Erinnerung besteht darin, dass man damals solche Arbeiten in der Öffentlichkeit platzieren konnte. Dass die Menschen an einem Prozess teilnahmen, der gerade im Entstehen war und große Emotionen ausgelöst hat. Die Underground-Explosion von X-Screen war ungewöhnlich aggressiv im Vergleich zum Kunstbetrieb. Da wurde Bier verkauft, und es gab sogar Flipperautomaten; doch das, was an Kunst passierte, war unglaublich aggressiv.

Aggressiv auch in den Debatten?

Hein: Ja natürlich, es gab ja den Kampf vor der Kunsthalle, da ging es schon hart zur Sache: Sollte sie nun gestürmt werden oder nicht? Was die Leute begeisterte, war, dass sie an etwas Vitalem teilgenommen haben.

Jetzt ist die Kunsthalle abgerissen, und kaum jemand hat sich darüber aufgeregt. Kann man nicht einfach sagen, dass das Interesse an Kunst generell gemäßigter und unkritischer geworden ist?

Hein: Das würde ich niemals behaupten. Es ist momentan eher ein anderes Stadium, eine andere Zeit. Es hat damals vieles zusammengefunden: die Studentenrevolte und ein Umbruch in der Kunst. Das hat sich gegenseitig beflügelt und verstärkt. Solche Zeiten gibt es nicht immer. Es bilden sich heute ganz neue Formen heraus, wie ich auch durch meine Studenten lerne. Es gibt eine neue politische Kunst, etwa durch den Videoaktivismus. Diese Künstler bestreiken zum Teil den Kunstbetrieb.

Was wäre denn der ideale Heimatort für den Film als Kunst?

Hein: Das kann ich so nicht beantworten. Ein idealer Punkt ist schon ein Stillstand. Es gibt keinen idealen Punkt, sondern nur Prozesse. Würde ich mich da festlegen, wäre ich eine alte Oma und tot.

Kann man denn hoffen, dass durch eine Kunstfilmbiennale wie hier in Bonn ein gebildeteres Publikum heranwächst? Gibt es denn überhaupt noch ein Verständnis für die Kontexte, aus denen Avantgardefilm heraus funktioniert?

Hein: Ich würde sagen, dass nur der kleinste Teil des Publikums es kennt. Aber die Kunstfilmbiennale wird sicher viele dazu führen, sich damit auseinanderzusetzen. Ich würde nie sagen, dieses Publikum ist dumm und dieses ist klug. Die Menschen entscheiden selbst, und man kann nie voraussagen, wohin sich eine Veranstaltung entwickelt.

Haben Sie eine Erklärung, woher das plötzliche Interesse der Kunstwelt am Film kommt?

Hein: Es ist ja gar nicht so plötzlich. Es ist vielmehr ein langer Prozess und inzwischen so evident, wie grundlegend der Film für Video, für neue Medien, nonlineare Interfaces, Homepages etc. ist und damit alle Ausstellungen durchdringt. Man beginnt sich dem einfach zu stellen. Darüber hinaus stellt sich aber auch eine ganze Künstlergeneration – etwa Douglas Gordon – der Hollywood-Bildwelt. Von daher kommt der Film als Medium in die Kunstwelt. Zufällig ist das nicht, sondern sehr Zeitgeist-bedingt. Ich hoffe nur, dass daraus auch etwas erwächst und nicht nur zur Adaption Hollywoods für die Kunst verkommt.

Bei Douglas Gordon könnte man ja durchaus den Eindruck haben, dass Kinoerfahrungen nur als Anlass dienen, dass also die Aura des Kinos benutzt wird, ohne viel damit anzustellen.

Hein: Ja, die Aura des Kinos wird jetzt benutzt. So kann man endlich das große Massenmedium, vor dem alle auf den Knien liegen, für die Kunstwelt vermarkten. Da fühlen sich alle sicher, denn einen Hitchcock-Film versteht ja jeder. Wenn der vermarktet wird, fühlt man sich heimisch. Damit aber ist keine Provokation mehr verbunden und auch kein Ausbrechen.

Wenn hingegen ein Avantgardefilm auf einem Filmfestival läuft, hat er es dort total schwer. Ist der „Film als Film“ für die Filmwelt nicht bereits verloren?

Hein: Das denke ich nicht. Beim Forum in Berlin, in Amsterdam auf dem Doku-Festival oder in Rotterdam, wo meine Filme gezeigt wurden, ist man sehr offen. Dokumentarfestivals sind diejenigen, die am offensten für neue Formen sind. Auch das Festival in Leipzig, was vielleicht auch mit seiner Geschichte zusammenhängt. Leipzig hat alle meine Filme, die nach der Trennung von Wilhelm Hein entstanden sind, gezeigt. Die wirklich offenen Festivals für Essayformen sind Dokumentarfilmfestivals, und davon gibt es genug.

Das beantwortet auch die Frage, wo Sie sich am wohlsten fühlen. Also doch eher in der Filmwelt als in der bildenden Kunst.

Hein: Zumindest bin ich dort am stärksten angenommen.

Glauben Sie denn, dass es irgendwann eine Kultur gibt, die den Film ähnlich gut versteht wie eine Kunst, die beispielsweise aus der Malerei-Tradition kommt?

Hein: Ja, da bin ich mir ganz sicher. Aber es braucht halt seine Zeit

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