Wie kam es zur Etablierung der mörderischen Hungerspiele und dem Aufstieg des späteren Diktators Coriolanus Snow? Das Prequel „Die Tribute von Panem: The Ballad of Songbirds and Snakes“ (Kinostart: 16.11.) beantwortet diese Fragen. Eine besondere Rolle spielt dabei das Production Design des deutschen Szenenbildners Uli Hanisch. Dieser griff auf Drehorte in Deutschland und Bildwelten der Midcentury-Ära zurück, um die Welt von Panem beziehungsreich zum Leben zu erwecken.
Als Suzanne Collins’ Roman mit der Vorgeschichte zur „Die Tribute von Panem“-Trilogie erschien, war die Kritik zunächst skeptisch: Ist die Geschichte vom Aufstieg eines alten weißen Mannes – des späteren Diktators Coriolanus Snow (in den Verfilmungen der Reihe gespielt von Donald Sutherland) – wirklich zeitgemäß? Collins eröffnet ihr Buch mit Zitaten von Thomas Hobbes und John Locke und untersucht, wie Charakter und Erfahrungen das Handeln einen Menschen prägen. Im Zentrum ihrer Geschichte steht eine ethische und letztlich auch psychologische Frage: Die Frage nach der Wahl. Und diese spiegelt sich in der Verfilmung des Romans, die am 16. November ins Kino kommt, auch im elaborierten Szenenbild des deutschen Production Designers Uli Hanisch.
Dass dem Production Design in dieser Geschichte aus dem „Tribute von Panem“-Universum eine ganz besondere Rolle zukommt, wird bereits im Trailer deutlich: Die Kamera ist nicht nur nah dran an den Protagonist:innen, sie schwelgt auch in den verschiedenen Sets und gewährt großzügige Einblicke in die verschiedenen Schauplätze: Eine gewaltige Arena, ein poppiges Fernsehstudio, ein elegantes Labor, düstere Industriebauten und unberührte Natur wechseln sich ab. Regisseur Francis Lawrence, der bereits drei Teile der Filmreihe verantwortete, betonte im Vorfeld, dass von der Architektur bis zur Inneneinrichtung jedes Detail die zerstörte Welt und die Charaktere der Geschichte spiegeln würde.
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Retrofuturistisches Design
Uli Hanisch ist einer der renommiertesten Production-Designer seiner Generation. Zuletzt wurde seine raffiniert-opulente Gestaltung von „Das Damengambit“ (2020) gefeiert. Bei der „Ballad of Songbirds and Snakes“ ist sein entscheidender Kunstgriff, dass er die Fantasy-Welt visuell in einer Art „Alternate History“ der realen Midcentury-Ära Ende der 1950er-Jahre, Anfang der 1960er-Jahre verortet. Fünfzehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren in Deutschland die Verheerungen mental noch ebenso präsent wie in Teilen der städtischen Architektur. Insbesondere das Interieur des Wirtschaftswunders bemühte sich, diese Narben zu übertünchen. So auch in Panem. Hier hat das totalitäre System gesiegt.
Daher entzieht Hanisch dem
„eigentlich fröhlichen und zukunftsgläubigen Design der 1950er-, 1960er-Jahre“,
wie er sagt, alle Frische, und mischt es stattdessen „mit einer ganz anderen
Farbigkeit“ und „mit altmodischen Materialien“ [siehe Interview]. Der Effekt ist
verblüffend. Das retrofuturistische Design von Drohnen, Fernsehgeräten und
anderen Gadgets zeigt eine große Ambivalenz, die zwischen Verführung und
Bedrohung changiert und damit Hanischs konzeptionellen Ansatz auf den Punkt
bringt.
Gestaltung als Frage der Moral
In den ersten Teilen der Filmreihe gelang es vor allem dem Kostüm- und Maskenbild mit seinen poppig-bunten Rokoko-Anklängen, die düstere Atmosphäre der tödlichen Kampfspiele zu konterkarieren. In dem nun erschienenen Prequel spiegeln sich die widersprüchlichen Sehnsüchte des Helden nach Freundschaft und Liebe einerseits, nach Macht, Anerkennung und Einflussnahme andererseits, im vielfältigen Production Design. So werden Ambivalenzen sichtbar, die stets eine Haltung und Bewertung verlangen. Auch das Kinopublikum wird damit zu einer Stellungnahme herausgefordert.
Beispiel Control Room: Hier verfolgen die Mentorinnen und Mentoren das Kampfgeschehen in der Arena. Das Set erinnert mit den abgerundeten Bildschirmen und blau-schwarz-roten Bauten an die Studios früher harmloser Fernsehshows. Doch die Drohnentechnologie, die sämtliche Kameraperspektiven parallel überträgt, unterstreicht den Eindruck totaler Überwachung. Cool oder bedrohlich? Das Publikum entscheidet. Auch die Anordnung der Protagonist:innen im Kreis – ob im Lehrsaal des Campus (gedreht im Tieranatomischen Theater in Berlin von 1790) oder im Control Room (realisiert im Berliner Sportforum) – die eigentlich als Zeichen von Gleichberechtigung und Demokratie fungieren könnte, wird so zum Ausdruck von Exklusivität und Ausschluss.
Böse Bauten in Berlin
Bereits
in der Buchvorlage beschwören Zuschreibungen wie „Kapitol“ und „Arena“ Bilder
des römischen Imperiums herauf. In der achsensymmetrischen Anlage und
Gigantomanie der meisten Bauten nahmen die ersten Teile der Filmreihe diese
Anspielungen architektonisch auf. Für „The Ballad of Songbirds and Snakes“
konnte Hanisch nun die meisten Schauplätze in Berlin verorten und dabei die Schönheit
wie die Abgründe repräsentativer Bauwerke durchdeklinieren. Am verblüffendsten gerät
die nahtlose Montage der Säulengliederungen auf der Berliner Museumsinsel mit
den stalinistischen Bauwerken der heutigen Karl-Marx-Allee. Dass ausgerechnet
an diesen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Gebäuden Einschusslöcher
simuliert werden, macht die kontrafaktische Geschichtsschreibung perfekt.
Der arkadische Kolonnadenhof des Architekten Friedrich August Stüler lässt sich wiederum überraschend gut mit Werner Marchs Monumentalarchitektur des Olympiastadions von 1936 (bei der Albert Speer vermutlich beratend beteiligt war) verbinden. David Chipperfields zeitlos-elegante James-Simon-Galerie von 2018 mit ihren filigranen Säulen wird bei Hanisch zum modernsten Ort des Kapitols und bildet das Exterieur zum sakral aufgeladenen Treptower Krematorium von Axel Schulte und Charlotte Frank. Im Film ist hier das schaurig-schöne Labor von Dr. Gaul (Viola Davis) untergebracht, mit seinen zahlreichen Monstern und Mutationen: „Hier wird die Zukunft gemacht!“, wie Hanisch sagt.
Gibt es also böse Bauten, autoritäre Architekturen, die Menschen einschüchtern, bedrängen, ja vielleicht sogar zu schlechteren Menschen machen? Die Komplexität dieser Frage lässt sich auch am Büro von Dekan Casca Highbottom (Peter Dinklage) festmachen, das in der Ruhmeshalle des Leipziger Völkerschlachtdenkmals inszeniert wurde. Highbottom ist eine zwiegespaltene Figur. Selbst gescheitert und missbraucht, versucht er in einem manipulativen Akt das Schlechte noch zum Guten zu wenden. Es ist ein Statement, sein Büro inmitten von Franz Metzners allegorischen Tugendfiguren von 1905 zu platzieren, die für Volkeskraft, Opferbereitschaft, Tapferkeit und Glaubensstärke stehen. Doch der Ort strahlt weniger Heldenmut als vielmehr Trauer aus. Die überdimensionierten Gesichter der Totenwächter lassen die Zeit stillstehen. Hier wird der Opfer des Krieges gedacht, unabhängig von Nationalitäten. Das Figurenprogramm bedient sich der Bildsprache des Symbolismus und der Romantik. Die Vergrößerung der Proportionen ist Ausdruck starker Emotionen, die Überführung in Allegorien entspricht dem Versuch einer Bewältigung von Leiderfahrungen. Der Raum wird so zum Psychogramm.
Filmarchitektur als Psychogramm
Ebendies lässt sich auch vom zentralen Studiobau des Films sagen, dem Apartment der Familie Snow. Alle Kämpfe und Intrigen von Coriolanus Snow zielen auf den Erhalt dieser Wohnstätte. Sie verkörpert für ihn Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen. Der zentrale Raum dient allein der Repräsentation und kündet vom ehemaligen Ansehen der Familie, ebenso wie die Bleiglasfenster mit heroischen Darstellungen des verstorbenen Vaters, eines führenden Generals.
Die Flure und abzweigenden Zimmer zeugen hingegen von Kriegsschäden, Vereinsamung und Niedergang. Wie dysfunktional die familiäre Konstellation ist, wird besonders deutlich, wenn man den Grundriss betrachtet. Hanisch hat ihn in Form einer Schneeflocke angelegt.
Die Familie selbst regt die metaphorische Verwendung ihres Nachnamens durch ihren Leitspruch an: „Snow landet immer oben.“ Bei Hanisch macht der Grundriss auch die Fragilität der Schneeflocke sichtbar: an ihren Enden scheint sie bereits zu schmelzen. Zugleich ist die Raumanordnung ganz und gar filmisch konstruiert. Wie immer meidet Hanisch rechte Winkel. Jeder Raum endet in einer kristallinen Spitze, jeder Gang bildet einen Ort des Transits, jeder Blick aus dem Fenster scheint wie von Scheuklappen begrenzt.
Panem – Zentrum und Peripherie
Das Zentrum des Capitols bildet die Arena. Die jährlichen Erntespiele werden hier zu dem Spektakel geformt, das sechzig Jahre später die Massen mobilisiert. Hanisch wählte als Drehort die Jahrhunderthalle in Wrocław (Polen), 1913 von Max Berg erbaut. Die gewaltige Kuppelkonstruktion mit einer Spannweite von 65 Meter entstand in Anlehnung an das römische Pantheon. Um dem heute als Multifunktionsbau genutzten Gebäude einen wehrhaften Anstrich zu verleihen, ließ der Production-Designer kubistische Wandverkleidungen errichten und den Boden mit dem Logo Panems versehen.
Zu Beginn der Spiele beschädigt eine Explosion das Gebäude. Mithilfe eines Modells und zahlreicher Konstruktionszeichnungen schuf das Team des Art-Departments aus den Trümmerteilen eine Art Kletterparcours für die Kämpfenden. In der Mitte der Arena bildet sich die Vorform des späteren „Cornucopiae“, des Füllhorns, das die Tribute mit Nachschub an Waffen und Nahrung versorgt.
Fernab der Hauptstadt, im von Kohlebergbau geprägten District 12, existiert hingegen eine völlig andere Welt. Auch hier kämpfen die Menschen ums Überleben, doch aus anderen Gründen. Die bisherigen Filme deuteten die Arbeitswelt in den Minen nur an. Das Prequel ermöglicht es nun, wieder in visuellem Rückgriff auf die 1960er-Jahre, den Distrikt als eine Art vollbeschäftigtes Ruhrgebiet zu inszenieren. So wird auch die große Militärpräsenz der Friedenswächter vor Ort, die als Werkschutz fungieren, motiviert. Denn diese Stahl- und Bergbauanlagen sind für den Staat überlebenswichtig.
Als Drehort wurde hierfür der Landschaftspark Nord in Duisburg gewählt. Hanisch hat hier 1990 bereits mit Christoph Schlingensief das „Deutsche Kettensägenmassaker“ realisiert. Er schwärmt von den gewaltigen Industriearchitekturen, in denen man „alles behaupten“ kann. Tatsächlich macht das die besondere Kunst von Uli Hanischs Arbeit aus: Dass er Originalschauplätze so modifiziert und kombiniert, dass sie eine bezwingende Glaubwürdigkeit erhalten.
World Building par excellence
Eines der Geheimnisse erfolgreicher Games, Filmreihen und Serien ist ihr schlüssiges Konzept. Sie lassen die Zuschauer:innen in eine konsistente Welt eintauchen, deren Vorgeschichte und Fortsetzungen beliebig ausgesponnen werden können. In diesem fiktiven Universum wird die chronologische Erzählung mit Überlegungen zu Zeit- und Sozialgeschichte, Wirtschaft und Technologie, Kultur und Brauchtum angereichert. Das World Building berücksichtigt so bereits Aspekte, die möglicherweise erst zu einem späteren Zeitpunkt zum Tragen kommen. Im Falle eines Prequels spielen außerdem die Anschlüsse an die Folgeerzählungen eine wichtige Rolle. Zugleich können jedoch Motivationen ergänzt werden, die bislang unbeachtet blieben.
Uli Hanisch erschafft in „Die Tribute von Panem: The Ballad of Songbirds and Snakes“ ein solch schlüssige Welt, die auf die bereits vorliegenden, in der Zukunft spielenden Teile hindeutet und die zudem neue Interpretationen und Ausgestaltungen eröffnet. Wie bewegen sich die Menschen in der Stadt fort? Wir präsent ist die Überwachung durch den Staat? Welche Technologien kommen im Alltag zum Einsatz? Und mit welchen Parolen werden die Menschen infiltriert? All diese Fragen, die im Roman unbeantwortet bleiben, stellte sich der Production-Designer im Vorfeld, und sie werden durch Hanischs Szenenbild oft en passant gestreift, zum Teil auch beantwortet.
So stattet er beispielweise zahlreiche Gegenstände mit einem roten Lichtpunkt, einer Art magischem Auge, aus, das an HAL 9000, den Bordcomputer aus Stanley Kubricks „2001“ (1968) erinnert. Lassen sich Alltagsgegenstände und Fahrzeuge so möglicherweise in Überwachungstools verwandeln? Die Frage bleibt unbeantwortet, erzeugt aber ein nachhaltiges Unbehagen. Die Autos ähneln russischen Modellen der 1960er-Jahre, haben aber anscheinend keinen Auspuff und sind mit ungewöhnlich kleinen Schweinwerfern ausgestattet. Auch dies lässt auf neue Technologien schließen.
Ideologische Implikationen
Das Team von Hanisch hat auch zahlreiche neue Logos entwickelt, die Fahnen, Uniformen und Objekte zieren und die den ideologischen Überbau von Panem illustrieren. Dass der Szenenbildner ursprünglich vom Grafikdesign kommt, wird hier besonders deutlich. In der Farb- und Formgebung ist kein Element dem Zufall überlassen. Das Panem-Logo des Adlers mit ausgebreiteten Schwingen unterscheidet sich von den späteren Versionen unter anderem dadurch, dass anstelle des Erntekranzes die dreizehn Sterne der Distrikte den Rahmen bilden, denn die Erntespiele werden ja gerade erst etabliert.
Das Motiv der Speerspitze, das an zahlreichen Gebäuden der Hauptstadt wie beispielsweise der Arena zum Einsatz kommt, findet sich in den Piktogrammen des Militärs und der Akademie wieder. Die „Panema“ schließlich, eine Art Gründungsfigur, die nun die Fahnen der Hauptstadt ziert, ist eine völlig neue Schöpfung aus dem Art-Department. Als Mischung aus Mütterchen Russland und Freiheitsstatue stattet Hanisch sie wehrhaft mit zwei Schwertern aus und interpretiert eine Frauenfigur, die ursprünglich die Freiheit oder Heimat repräsentiert, zu einer Aggressorin um. Die Frage der Wahl, das „Was wäre wenn…“, spiegelt sich insbesondere in solchen Details.
Filmarchitektur überspitzt, überhöht und emotionalisiert. Sie erzwingt für die Schauspieler:innen ebenso wie für die Kamera bestimmte Bewegungen und Perspektiven. Zugleich eröffnet sie Spielräume und narrative Zugänge. Im Prequel von „Die Tribute von Panem“ lässt sich dies an jedem einzelnen Schauplatz und jedem Ausstattungsdetail ablesen. Das schlüssige World Building von Uli Hanisch erschafft jedoch nicht nur eine glaubwürdige Parallelwelt. Es zeigt, wie bestimmte Architekturen und Ästhetiken durch kleine Veränderungen ideologisch uminterpretiert werden können. Und es lädt zugleich zur Reflexion ein – über den schmalen Grat zwischen Bedrohung und Verführung – und damit über die Wahl, die auch in jeder Alltagsentscheidung schlummert.
Die Autorin Kristina Jaspers ist Kuratorin an der Deutschen Kinemathek, Berlin. Dort wird das Arbeitsarchiv von Uli Hanisch verwahrt und erschlossen. Im Online-Magazin „Insights“ ist das vollständige Interview mit Hanisch nachzulesen.